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Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895.

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§ 4. Der Polizeistaat.

Wenn der Fürst einen Civilrechtssatz befiehlt, so macht er
etwas, was er in anderer Form nicht machen könnte: er wirkt auf
die Handhabung der Rechtspflege ein; was er ja sonst nur durch
einen aussergewöhnlichen Machtspruch, nach späterer Auffassung auch
dadurch nicht zu thun vermochte. Ist das Gesetz aber einmal da,
so ist es unverbrüchlich für die ganze obrigkeitliche Thätigkeit: vom
Richter allein hängt seine Handhabung ab, der Richter aber muss es
anwenden und der Fürst kann ihn nicht entbinden. Dass ein neues
Gesetz für die Zukunft Änderung schaffen mag, thut dem keinen
Eintrag.

Anders das Polizeigesetz. Es bestimmt, was der Fürst
rechtlich auch im Einzelfalle anordnen könnte; es ist lediglich Zweck-
mässigkeitssache, dass man die vielen gleichartigen Fälle in dieser
Weise zusammenfasst. Es bindet die Beamten bloss dem Fürsten
gegenüber, insofern sie ihm zur Handhabung seiner Befehle ver-
pflichtet sind; es kann ihnen in ihrem allgemeinen Amtsauftrag Spiel-
raum gelassen sein, es auch mit der Handhabung eines solchen Ge-
setzes nach bestem Ermessen zu halten, sie können im Einzelfall
andere Anweisung bekommen, der Fürst selbst kann unmittelbar
anders verfügen.

In dieser Weise sind Justizgesetze für die Regierung selbst
bindend,
Polizeigesetze nicht; Justizgesetze machen deshalb Recht,
Polizeigesetze nicht. Wer es genauer nimmt und von den ersteren
her die Eigenschaft, Rechtssätze zu schaffen, als ein wesentliches
Merkmal des Gesetzes erkennt, versagt jetzt geradezu den allgemeinen
Befehlen, welche der Fürst auf dem Gebiete der Polizei, der Finanzen
u. s. w. veröffentlicht, den Namen Gesetz und bezeichnet sie im
Gegensatze dazu als blosse Verordnungen9.

9 Eichhorn, Betracht. über d. Verf. des Deutsch. Bundes S. 41: In Re-
gierungssachen ist es zulässig, "auch wenn eine bestimmte Norm vorhanden ist,
auf die individuelle Lage der Dinge Rücksicht zu nehmen und was dem gemeinen
Wohle angemessen ist zu verfügen, wenn es auch eine Abweichung von den in
einer Rechtsnorm aufgestellten Regeln enthält ... (diese Gesetze) sind eigentlich
nur Regeln für die vollziehenden Behörden des Staates, welche bestimmen, wie
weit diesen eine selbständige Verfügung zusteht". Diese unteren Behörden sind
natürlich gehalten, die von ihren Oberen erlassenen Befehle nicht mit selbständigen
Verfügungen zu durchkreuzen; für die Unterthanen aber sind diese uneigentlichen
Gesetze nichts festes. Die Sache hat einige Ähnlichkeit mit Jherings "einseitig
verbindender Norm" (Zweck im R. S. 333, 338, 340). Funke, Die Verw. in ihrem
Verh. z. Just. (1840), kennzeichnet deshalb geradezu den Gegensatz zwischen Privat-
recht und öffentlichem Rechte dahin, dass es nur auf dem Gebiete des ersteren
"Rechtsgesetze" giebt (S. 40). Noch klarer die scharfsinnige Schrift eines Un-
§ 4. Der Polizeistaat.

Wenn der Fürst einen Civilrechtssatz befiehlt, so macht er
etwas, was er in anderer Form nicht machen könnte: er wirkt auf
die Handhabung der Rechtspflege ein; was er ja sonst nur durch
einen auſsergewöhnlichen Machtspruch, nach späterer Auffassung auch
dadurch nicht zu thun vermochte. Ist das Gesetz aber einmal da,
so ist es unverbrüchlich für die ganze obrigkeitliche Thätigkeit: vom
Richter allein hängt seine Handhabung ab, der Richter aber muſs es
anwenden und der Fürst kann ihn nicht entbinden. Daſs ein neues
Gesetz für die Zukunft Änderung schaffen mag, thut dem keinen
Eintrag.

Anders das Polizeigesetz. Es bestimmt, was der Fürst
rechtlich auch im Einzelfalle anordnen könnte; es ist lediglich Zweck-
mäſsigkeitssache, daſs man die vielen gleichartigen Fälle in dieser
Weise zusammenfaſst. Es bindet die Beamten bloſs dem Fürsten
gegenüber, insofern sie ihm zur Handhabung seiner Befehle ver-
pflichtet sind; es kann ihnen in ihrem allgemeinen Amtsauftrag Spiel-
raum gelassen sein, es auch mit der Handhabung eines solchen Ge-
setzes nach bestem Ermessen zu halten, sie können im Einzelfall
andere Anweisung bekommen, der Fürst selbst kann unmittelbar
anders verfügen.

In dieser Weise sind Justizgesetze für die Regierung selbst
bindend,
Polizeigesetze nicht; Justizgesetze machen deshalb Recht,
Polizeigesetze nicht. Wer es genauer nimmt und von den ersteren
her die Eigenschaft, Rechtssätze zu schaffen, als ein wesentliches
Merkmal des Gesetzes erkennt, versagt jetzt geradezu den allgemeinen
Befehlen, welche der Fürst auf dem Gebiete der Polizei, der Finanzen
u. s. w. veröffentlicht, den Namen Gesetz und bezeichnet sie im
Gegensatze dazu als bloſse Verordnungen9.

9 Eichhorn, Betracht. über d. Verf. des Deutsch. Bundes S. 41: In Re-
gierungssachen ist es zulässig, „auch wenn eine bestimmte Norm vorhanden ist,
auf die individuelle Lage der Dinge Rücksicht zu nehmen und was dem gemeinen
Wohle angemessen ist zu verfügen, wenn es auch eine Abweichung von den in
einer Rechtsnorm aufgestellten Regeln enthält … (diese Gesetze) sind eigentlich
nur Regeln für die vollziehenden Behörden des Staates, welche bestimmen, wie
weit diesen eine selbständige Verfügung zusteht“. Diese unteren Behörden sind
natürlich gehalten, die von ihren Oberen erlassenen Befehle nicht mit selbständigen
Verfügungen zu durchkreuzen; für die Unterthanen aber sind diese uneigentlichen
Gesetze nichts festes. Die Sache hat einige Ähnlichkeit mit Jherings „einseitig
verbindender Norm“ (Zweck im R. S. 333, 338, 340). Funke, Die Verw. in ihrem
Verh. z. Just. (1840), kennzeichnet deshalb geradezu den Gegensatz zwischen Privat-
recht und öffentlichem Rechte dahin, daſs es nur auf dem Gebiete des ersteren
„Rechtsgesetze“ giebt (S. 40). Noch klarer die scharfsinnige Schrift eines Un-
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[43/0063] § 4. Der Polizeistaat. Wenn der Fürst einen Civilrechtssatz befiehlt, so macht er etwas, was er in anderer Form nicht machen könnte: er wirkt auf die Handhabung der Rechtspflege ein; was er ja sonst nur durch einen auſsergewöhnlichen Machtspruch, nach späterer Auffassung auch dadurch nicht zu thun vermochte. Ist das Gesetz aber einmal da, so ist es unverbrüchlich für die ganze obrigkeitliche Thätigkeit: vom Richter allein hängt seine Handhabung ab, der Richter aber muſs es anwenden und der Fürst kann ihn nicht entbinden. Daſs ein neues Gesetz für die Zukunft Änderung schaffen mag, thut dem keinen Eintrag. Anders das Polizeigesetz. Es bestimmt, was der Fürst rechtlich auch im Einzelfalle anordnen könnte; es ist lediglich Zweck- mäſsigkeitssache, daſs man die vielen gleichartigen Fälle in dieser Weise zusammenfaſst. Es bindet die Beamten bloſs dem Fürsten gegenüber, insofern sie ihm zur Handhabung seiner Befehle ver- pflichtet sind; es kann ihnen in ihrem allgemeinen Amtsauftrag Spiel- raum gelassen sein, es auch mit der Handhabung eines solchen Ge- setzes nach bestem Ermessen zu halten, sie können im Einzelfall andere Anweisung bekommen, der Fürst selbst kann unmittelbar anders verfügen. In dieser Weise sind Justizgesetze für die Regierung selbst bindend, Polizeigesetze nicht; Justizgesetze machen deshalb Recht, Polizeigesetze nicht. Wer es genauer nimmt und von den ersteren her die Eigenschaft, Rechtssätze zu schaffen, als ein wesentliches Merkmal des Gesetzes erkennt, versagt jetzt geradezu den allgemeinen Befehlen, welche der Fürst auf dem Gebiete der Polizei, der Finanzen u. s. w. veröffentlicht, den Namen Gesetz und bezeichnet sie im Gegensatze dazu als bloſse Verordnungen 9. 9 Eichhorn, Betracht. über d. Verf. des Deutsch. Bundes S. 41: In Re- gierungssachen ist es zulässig, „auch wenn eine bestimmte Norm vorhanden ist, auf die individuelle Lage der Dinge Rücksicht zu nehmen und was dem gemeinen Wohle angemessen ist zu verfügen, wenn es auch eine Abweichung von den in einer Rechtsnorm aufgestellten Regeln enthält … (diese Gesetze) sind eigentlich nur Regeln für die vollziehenden Behörden des Staates, welche bestimmen, wie weit diesen eine selbständige Verfügung zusteht“. Diese unteren Behörden sind natürlich gehalten, die von ihren Oberen erlassenen Befehle nicht mit selbständigen Verfügungen zu durchkreuzen; für die Unterthanen aber sind diese uneigentlichen Gesetze nichts festes. Die Sache hat einige Ähnlichkeit mit Jherings „einseitig verbindender Norm“ (Zweck im R. S. 333, 338, 340). Funke, Die Verw. in ihrem Verh. z. Just. (1840), kennzeichnet deshalb geradezu den Gegensatz zwischen Privat- recht und öffentlichem Rechte dahin, daſs es nur auf dem Gebiete des ersteren „Rechtsgesetze“ giebt (S. 40). Noch klarer die scharfsinnige Schrift eines Un-

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Zitationshilfe: Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht01_1895/63>, abgerufen am 26.11.2024.