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Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895.

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§ 19. Grenzen der Polizeigewalt.

2. Die Polizeigewalt erfasst den Pflichtigen auch nur soweit,
als Störung von ihm ausgeht. Die naturrechtliche Grundlage erfordert
die Verhältnismässigkeit der Abwehr und bestimmt damit
das Mass der polizeilichen Kraftentwicklung. Es ist nicht anzu-
nehmen, dass das Gesetz mit den allgemeinen Ermächtigungen, auf
deren Grund die Polizeibehörde vorgeht, über dieses natürliche Mass
hinaus Ermächtigung zur Abwehr geben wollte. Dadurch erhält das-
selbe die Bedeutung einer wirksamen Rechtsschranke.

Die Störung, welche von dem Einzelnen ausgeht, erscheint im
Zusammenhange seiner sonstigen Lebensäusserungen häufig als Stück
eines umfassenderen Thätigkeitsganzen. Die Polizeigewalt darf hier
nicht mit der Störung unnötigerweise zugleich das Zulässige, noch in
der gesellschaftlichen Freiheit Liegende unterdrücken und so das Un-
kraut mit dem Weizen ausraufen. So weit wenigstens eine Aus-
scheidung
möglich ist, muss sie dieselbe machen. Das wird
namentlich da zutreffen, wo Polizeiwidrigkeiten als selbständige Hand-
lungen im Bereiche und bei Gelegenheit eines an sich erlaubten
Unternehmens stattfinden, ohne dass der Charakter des Unternehmens
selbst dadurch berührt wird. Die Polizeibehörde, welche unter solchen
Umständen zur Bekämpfung der Störung gleich das ganze Unter-
nehmen unterdrückte, würde eine Machtüberschreitung begehen11.

Die Klage ist unzulässig, weil gegen eine polizeiliche Verfügung gerichtet; denn
die fragliche Anordnung betrifft die öffentliche Ordnung, d. h. hier die Reinhaltung
der öffentlichen Strasse; "der Kläger, welchem die Aufnahme der Flüssigkeiten in
die Rinne vor seinem Hause aufgegeben ist", kann nur Entschädigung begehren.
Das Richtige war, dass der Landrat verbieten konnte, das Spülwasser auf die
Strasse zu schütten; aber dem Nachbar die Last aufzulegen, dass er diese Schäd-
lichkeit übernehme, geht über das Mass der Polizeigewalt hinaus, -- und noch
dazu die Form, wo dem Einen etwas aufgegeben sein soll durch einen Befehl an
den Andern! -- Umgekehrt wird der, von welchem die Störung, wie sie hier vor-
liegt, thatsächlich ausgeht, auch dadurch nicht von seiner polizeilichen Pflicht be-
freit, dass er nachweist, andere hätten durch ihr fehlerhaftes Verfahren ihm gegen-
über ihn erst in die Lage gebracht, dass er jetzt stört. Württ. Min. d. I. 28. April
1876 (Reger III S. 440): Eine Strasse in Stuttgart wird aufgefüllt; ein angrenzen-
des Grundstück versumpft; die Polizeibehörde befiehlt dem Eigentümer, seinerseits
aufzufüllen. Dieser wendet ein, dass die Strassenanlage schuld sei, sowie die
Nachbarn, welche ihm Wasser zuleiten. Entscheidung: die Polizeibehörde kann
sich nur an den Eigentümer halten, von dessen Grundstück die Schädlichkeit aus-
geht; dieser mag gegen die Schuldigen im Civilrechtswege seine Schadensersatz-
ansprüche geltend machen.
11 O.V.G. 10. April 1886: Ein Kleinhändler schenkt in seinem Geschäfte un-
befugt Branntwein; die Polizei droht die Schliessung des Ladens an. Eine solche
§ 19. Grenzen der Polizeigewalt.

2. Die Polizeigewalt erfaſst den Pflichtigen auch nur soweit,
als Störung von ihm ausgeht. Die naturrechtliche Grundlage erfordert
die Verhältnismäſsigkeit der Abwehr und bestimmt damit
das Maſs der polizeilichen Kraftentwicklung. Es ist nicht anzu-
nehmen, daſs das Gesetz mit den allgemeinen Ermächtigungen, auf
deren Grund die Polizeibehörde vorgeht, über dieses natürliche Maſs
hinaus Ermächtigung zur Abwehr geben wollte. Dadurch erhält das-
selbe die Bedeutung einer wirksamen Rechtsschranke.

Die Störung, welche von dem Einzelnen ausgeht, erscheint im
Zusammenhange seiner sonstigen Lebensäuſserungen häufig als Stück
eines umfassenderen Thätigkeitsganzen. Die Polizeigewalt darf hier
nicht mit der Störung unnötigerweise zugleich das Zulässige, noch in
der gesellschaftlichen Freiheit Liegende unterdrücken und so das Un-
kraut mit dem Weizen ausraufen. So weit wenigstens eine Aus-
scheidung
möglich ist, muſs sie dieselbe machen. Das wird
namentlich da zutreffen, wo Polizeiwidrigkeiten als selbständige Hand-
lungen im Bereiche und bei Gelegenheit eines an sich erlaubten
Unternehmens stattfinden, ohne daſs der Charakter des Unternehmens
selbst dadurch berührt wird. Die Polizeibehörde, welche unter solchen
Umständen zur Bekämpfung der Störung gleich das ganze Unter-
nehmen unterdrückte, würde eine Machtüberschreitung begehen11.

Die Klage ist unzulässig, weil gegen eine polizeiliche Verfügung gerichtet; denn
die fragliche Anordnung betrifft die öffentliche Ordnung, d. h. hier die Reinhaltung
der öffentlichen Straſse; „der Kläger, welchem die Aufnahme der Flüssigkeiten in
die Rinne vor seinem Hause aufgegeben ist“, kann nur Entschädigung begehren.
Das Richtige war, daſs der Landrat verbieten konnte, das Spülwasser auf die
Straſse zu schütten; aber dem Nachbar die Last aufzulegen, daſs er diese Schäd-
lichkeit übernehme, geht über das Maſs der Polizeigewalt hinaus, — und noch
dazu die Form, wo dem Einen etwas aufgegeben sein soll durch einen Befehl an
den Andern! — Umgekehrt wird der, von welchem die Störung, wie sie hier vor-
liegt, thatsächlich ausgeht, auch dadurch nicht von seiner polizeilichen Pflicht be-
freit, daſs er nachweist, andere hätten durch ihr fehlerhaftes Verfahren ihm gegen-
über ihn erst in die Lage gebracht, daſs er jetzt stört. Württ. Min. d. I. 28. April
1876 (Reger III S. 440): Eine Straſse in Stuttgart wird aufgefüllt; ein angrenzen-
des Grundstück versumpft; die Polizeibehörde befiehlt dem Eigentümer, seinerseits
aufzufüllen. Dieser wendet ein, daſs die Straſsenanlage schuld sei, sowie die
Nachbarn, welche ihm Wasser zuleiten. Entscheidung: die Polizeibehörde kann
sich nur an den Eigentümer halten, von dessen Grundstück die Schädlichkeit aus-
geht; dieser mag gegen die Schuldigen im Civilrechtswege seine Schadensersatz-
ansprüche geltend machen.
11 O.V.G. 10. April 1886: Ein Kleinhändler schenkt in seinem Geschäfte un-
befugt Branntwein; die Polizei droht die Schlieſsung des Ladens an. Eine solche
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[267/0287] § 19. Grenzen der Polizeigewalt. 2. Die Polizeigewalt erfaſst den Pflichtigen auch nur soweit, als Störung von ihm ausgeht. Die naturrechtliche Grundlage erfordert die Verhältnismäſsigkeit der Abwehr und bestimmt damit das Maſs der polizeilichen Kraftentwicklung. Es ist nicht anzu- nehmen, daſs das Gesetz mit den allgemeinen Ermächtigungen, auf deren Grund die Polizeibehörde vorgeht, über dieses natürliche Maſs hinaus Ermächtigung zur Abwehr geben wollte. Dadurch erhält das- selbe die Bedeutung einer wirksamen Rechtsschranke. Die Störung, welche von dem Einzelnen ausgeht, erscheint im Zusammenhange seiner sonstigen Lebensäuſserungen häufig als Stück eines umfassenderen Thätigkeitsganzen. Die Polizeigewalt darf hier nicht mit der Störung unnötigerweise zugleich das Zulässige, noch in der gesellschaftlichen Freiheit Liegende unterdrücken und so das Un- kraut mit dem Weizen ausraufen. So weit wenigstens eine Aus- scheidung möglich ist, muſs sie dieselbe machen. Das wird namentlich da zutreffen, wo Polizeiwidrigkeiten als selbständige Hand- lungen im Bereiche und bei Gelegenheit eines an sich erlaubten Unternehmens stattfinden, ohne daſs der Charakter des Unternehmens selbst dadurch berührt wird. Die Polizeibehörde, welche unter solchen Umständen zur Bekämpfung der Störung gleich das ganze Unter- nehmen unterdrückte, würde eine Machtüberschreitung begehen 11. 10 11 O.V.G. 10. April 1886: Ein Kleinhändler schenkt in seinem Geschäfte un- befugt Branntwein; die Polizei droht die Schlieſsung des Ladens an. Eine solche 10 Die Klage ist unzulässig, weil gegen eine polizeiliche Verfügung gerichtet; denn die fragliche Anordnung betrifft die öffentliche Ordnung, d. h. hier die Reinhaltung der öffentlichen Straſse; „der Kläger, welchem die Aufnahme der Flüssigkeiten in die Rinne vor seinem Hause aufgegeben ist“, kann nur Entschädigung begehren. Das Richtige war, daſs der Landrat verbieten konnte, das Spülwasser auf die Straſse zu schütten; aber dem Nachbar die Last aufzulegen, daſs er diese Schäd- lichkeit übernehme, geht über das Maſs der Polizeigewalt hinaus, — und noch dazu die Form, wo dem Einen etwas aufgegeben sein soll durch einen Befehl an den Andern! — Umgekehrt wird der, von welchem die Störung, wie sie hier vor- liegt, thatsächlich ausgeht, auch dadurch nicht von seiner polizeilichen Pflicht be- freit, daſs er nachweist, andere hätten durch ihr fehlerhaftes Verfahren ihm gegen- über ihn erst in die Lage gebracht, daſs er jetzt stört. Württ. Min. d. I. 28. April 1876 (Reger III S. 440): Eine Straſse in Stuttgart wird aufgefüllt; ein angrenzen- des Grundstück versumpft; die Polizeibehörde befiehlt dem Eigentümer, seinerseits aufzufüllen. Dieser wendet ein, daſs die Straſsenanlage schuld sei, sowie die Nachbarn, welche ihm Wasser zuleiten. Entscheidung: die Polizeibehörde kann sich nur an den Eigentümer halten, von dessen Grundstück die Schädlichkeit aus- geht; dieser mag gegen die Schuldigen im Civilrechtswege seine Schadensersatz- ansprüche geltend machen.

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Zitationshilfe: Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht01_1895/287>, abgerufen am 21.05.2024.