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Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895.

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§ 10. Quellen des Verwaltungsrechts.
Die Gewohnheit, welche diese Kraft hat und demnach selbst Rechts-
quelle ist, nennen wir die rechtsverbindliche Gewohnheit19.

Von verwaltungsrechtlichem Gewohnheitsrechte wird ungemein
häufig geredet, wenn es gilt, eine Aufstellung zu belegen ohne weitere
Erörterung. In Wirklichkeit ist diese Rechtsquelle nur für einen
ganz engen Kreis von Bedeutung, der uns aus der Handhabung des
geltenden Rechtes deutlich abgegrenzt entgegentritt.

Die Voraussetzungen für die Wirksamkeit des Gewohnheitsrechts
sind nämlich in der Verwaltung ganz anders als in der Justiz.

Die Justiz ist dazu bestellt, die Rechtsordnung aufrecht zu er-
halten, anzuwenden und durchzuführen im Einzelfall. Sie kann ihrer
Natur nach gar nicht anders thätig werden als auf Grund von Rechts-
sätzen. Fehlt gesetztes Recht, so muss sie nehmen, was thatsächlich
seine Stelle vertritt, was bisher für solche Sachen als Recht gegolten
hat in der Übung der Einzelnen und der das Recht handhabenden
Behörden. Bei fehlender oder unvollkommener Rechtssetzung ist also
im Amtsauftrag des Richters notwendig eine solche Verweisung ent-
halten. Und darin liegt eben die staatliche Anerkennung der that-
sächlichen Übung, die sie zum Gewohnheitsrechte macht.

Ganz anders die Verwaltung. Sie hatte im Polizeistaat ihre
reiche und umfassende Thätigkeit kräftiglich entwickelt ohne Rechts-
ordnung in unserem Sinne. Der Rechtsstaat hat Rechtsordnung da
hineingestellt durch die bindende Kraft des Gesetzes und die von
ihm abgezweigten Rechtssetzungsformen. Aber niemals ist für die
Verwaltung die Rechtsordnung so ganz ihre eigene Daseinsbedingung
wie für die Justiz. Sie erscheint in ihr nur "möglichst"; soweit kein
Rechtssatz da ist, wird doch verwaltet und es ist auch gut. Die Ver-
waltung ist also im Gegensatze zur Justiz nicht darauf angewiesen,
ein nicht gesetztes Recht in ihrem Gegenstande selbst zu suchen und
aufrecht zu erhalten.

Ja noch mehr! Wo gesetztes Recht fehlt, da ist das so gewollt
und soll ordentlicher Weise so bleiben. Wenn kein gesetzlicher Rechts-
satz besteht, der die Behörde zu gewissen Eingriffen in Freiheit und
Eigentum ermächtigt, so beweist das, dass die gesetzgebende Gewalt
solche Eingriffe nicht zulassen wollte. Wo bliebe ihr verfassungs-
mässiger Vorbehalt, wenn die Verwaltung sich die nötigen Rechts-
sätze durch längere Übung selbst erzeugen könnte! Wo andererseits

19 An dieser Stelle ist es üblich, zu verweisen auf Lüders, Das Gewohn-
heitsrecht auf dem Gebiete der Verwaltung, 1863. Das Buch verdankt dies ledig-
lich seinem Titel.
9*

§ 10. Quellen des Verwaltungsrechts.
Die Gewohnheit, welche diese Kraft hat und demnach selbst Rechts-
quelle ist, nennen wir die rechtsverbindliche Gewohnheit19.

Von verwaltungsrechtlichem Gewohnheitsrechte wird ungemein
häufig geredet, wenn es gilt, eine Aufstellung zu belegen ohne weitere
Erörterung. In Wirklichkeit ist diese Rechtsquelle nur für einen
ganz engen Kreis von Bedeutung, der uns aus der Handhabung des
geltenden Rechtes deutlich abgegrenzt entgegentritt.

Die Voraussetzungen für die Wirksamkeit des Gewohnheitsrechts
sind nämlich in der Verwaltung ganz anders als in der Justiz.

Die Justiz ist dazu bestellt, die Rechtsordnung aufrecht zu er-
halten, anzuwenden und durchzuführen im Einzelfall. Sie kann ihrer
Natur nach gar nicht anders thätig werden als auf Grund von Rechts-
sätzen. Fehlt gesetztes Recht, so muſs sie nehmen, was thatsächlich
seine Stelle vertritt, was bisher für solche Sachen als Recht gegolten
hat in der Übung der Einzelnen und der das Recht handhabenden
Behörden. Bei fehlender oder unvollkommener Rechtssetzung ist also
im Amtsauftrag des Richters notwendig eine solche Verweisung ent-
halten. Und darin liegt eben die staatliche Anerkennung der that-
sächlichen Übung, die sie zum Gewohnheitsrechte macht.

Ganz anders die Verwaltung. Sie hatte im Polizeistaat ihre
reiche und umfassende Thätigkeit kräftiglich entwickelt ohne Rechts-
ordnung in unserem Sinne. Der Rechtsstaat hat Rechtsordnung da
hineingestellt durch die bindende Kraft des Gesetzes und die von
ihm abgezweigten Rechtssetzungsformen. Aber niemals ist für die
Verwaltung die Rechtsordnung so ganz ihre eigene Daseinsbedingung
wie für die Justiz. Sie erscheint in ihr nur „möglichst“; soweit kein
Rechtssatz da ist, wird doch verwaltet und es ist auch gut. Die Ver-
waltung ist also im Gegensatze zur Justiz nicht darauf angewiesen,
ein nicht gesetztes Recht in ihrem Gegenstande selbst zu suchen und
aufrecht zu erhalten.

Ja noch mehr! Wo gesetztes Recht fehlt, da ist das so gewollt
und soll ordentlicher Weise so bleiben. Wenn kein gesetzlicher Rechts-
satz besteht, der die Behörde zu gewissen Eingriffen in Freiheit und
Eigentum ermächtigt, so beweist das, daſs die gesetzgebende Gewalt
solche Eingriffe nicht zulassen wollte. Wo bliebe ihr verfassungs-
mäſsiger Vorbehalt, wenn die Verwaltung sich die nötigen Rechts-
sätze durch längere Übung selbst erzeugen könnte! Wo andererseits

19 An dieser Stelle ist es üblich, zu verweisen auf Lüders, Das Gewohn-
heitsrecht auf dem Gebiete der Verwaltung, 1863. Das Buch verdankt dies ledig-
lich seinem Titel.
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[131/0151] § 10. Quellen des Verwaltungsrechts. Die Gewohnheit, welche diese Kraft hat und demnach selbst Rechts- quelle ist, nennen wir die rechtsverbindliche Gewohnheit 19. Von verwaltungsrechtlichem Gewohnheitsrechte wird ungemein häufig geredet, wenn es gilt, eine Aufstellung zu belegen ohne weitere Erörterung. In Wirklichkeit ist diese Rechtsquelle nur für einen ganz engen Kreis von Bedeutung, der uns aus der Handhabung des geltenden Rechtes deutlich abgegrenzt entgegentritt. Die Voraussetzungen für die Wirksamkeit des Gewohnheitsrechts sind nämlich in der Verwaltung ganz anders als in der Justiz. Die Justiz ist dazu bestellt, die Rechtsordnung aufrecht zu er- halten, anzuwenden und durchzuführen im Einzelfall. Sie kann ihrer Natur nach gar nicht anders thätig werden als auf Grund von Rechts- sätzen. Fehlt gesetztes Recht, so muſs sie nehmen, was thatsächlich seine Stelle vertritt, was bisher für solche Sachen als Recht gegolten hat in der Übung der Einzelnen und der das Recht handhabenden Behörden. Bei fehlender oder unvollkommener Rechtssetzung ist also im Amtsauftrag des Richters notwendig eine solche Verweisung ent- halten. Und darin liegt eben die staatliche Anerkennung der that- sächlichen Übung, die sie zum Gewohnheitsrechte macht. Ganz anders die Verwaltung. Sie hatte im Polizeistaat ihre reiche und umfassende Thätigkeit kräftiglich entwickelt ohne Rechts- ordnung in unserem Sinne. Der Rechtsstaat hat Rechtsordnung da hineingestellt durch die bindende Kraft des Gesetzes und die von ihm abgezweigten Rechtssetzungsformen. Aber niemals ist für die Verwaltung die Rechtsordnung so ganz ihre eigene Daseinsbedingung wie für die Justiz. Sie erscheint in ihr nur „möglichst“; soweit kein Rechtssatz da ist, wird doch verwaltet und es ist auch gut. Die Ver- waltung ist also im Gegensatze zur Justiz nicht darauf angewiesen, ein nicht gesetztes Recht in ihrem Gegenstande selbst zu suchen und aufrecht zu erhalten. Ja noch mehr! Wo gesetztes Recht fehlt, da ist das so gewollt und soll ordentlicher Weise so bleiben. Wenn kein gesetzlicher Rechts- satz besteht, der die Behörde zu gewissen Eingriffen in Freiheit und Eigentum ermächtigt, so beweist das, daſs die gesetzgebende Gewalt solche Eingriffe nicht zulassen wollte. Wo bliebe ihr verfassungs- mäſsiger Vorbehalt, wenn die Verwaltung sich die nötigen Rechts- sätze durch längere Übung selbst erzeugen könnte! Wo andererseits 19 An dieser Stelle ist es üblich, zu verweisen auf Lüders, Das Gewohn- heitsrecht auf dem Gebiete der Verwaltung, 1863. Das Buch verdankt dies ledig- lich seinem Titel. 9*

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Zitationshilfe: Mayer, Otto: Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1. Leipzig, 1895, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_verwaltungsrecht01_1895/151>, abgerufen am 30.04.2024.