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Mayer, Johann Tobias: Vollständiger Lehrbegriff der höhern Analysis. Bd. 1. Göttingen, 1818.

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Differenzial-Rechnung. Vorbegriffe.
signabili). Man sagt in diesem Falle daß sie
unendlich werde.

V. Der Begriff des Unendlichen beruht also
bloß auf der denkbaren Möglichkeit des Wachs-
thums einer Zahl oder Grösse überhaupt, über
jede angebliche Gränze hinaus. Aber wir dür-
fen uns das Unendliche nie als völlig erreicht,
als ein völlig bestimmtes, das durch irgend eine
Zahl dargestellt werden könnte, gedenken. Man
hat daher zur Bezeichnung des Unendlichen das
Zeichen infinity eingeführt, um dem Verstande die
Freyheit zu lassen, die Gränze über welche eine
Zahl oder Grösse steigt, sich so weit als man
will hinauszudenken. Aber jede Gränze die man
für ein solches Wachsthum würklich setzt, ist end-
lich, und bloß darin, daß jede Gränze über-
schritten, und keine letzte gedacht werden kann,
setzen wir den Begriff des Unendlichen, der denn
in der höhern Mathematik, als abstracter Be-
griff eben so gut ohne Anstoß gebraucht werden
kann, als viel andere Begriffe, die auch nur in
der Abstraction statt finden, und doch den Ge-
genstand einer ganzen Wissenschaft ausmachen.

VI. So sprechen wir in der Geometrie von
einer Linie, ohne an die Fläche zu denken,

von

Differenzial-Rechnung. Vorbegriffe.
ſignabili). Man ſagt in dieſem Falle daß ſie
unendlich werde.

V. Der Begriff des Unendlichen beruht alſo
bloß auf der denkbaren Moͤglichkeit des Wachs-
thums einer Zahl oder Groͤſſe uͤberhaupt, uͤber
jede angebliche Graͤnze hinaus. Aber wir duͤr-
fen uns das Unendliche nie als voͤllig erreicht,
als ein voͤllig beſtimmtes, das durch irgend eine
Zahl dargeſtellt werden koͤnnte, gedenken. Man
hat daher zur Bezeichnung des Unendlichen das
Zeichen ∞ eingefuͤhrt, um dem Verſtande die
Freyheit zu laſſen, die Graͤnze uͤber welche eine
Zahl oder Groͤſſe ſteigt, ſich ſo weit als man
will hinauszudenken. Aber jede Graͤnze die man
fuͤr ein ſolches Wachsthum wuͤrklich ſetzt, iſt end-
lich, und bloß darin, daß jede Graͤnze uͤber-
ſchritten, und keine letzte gedacht werden kann,
ſetzen wir den Begriff des Unendlichen, der denn
in der hoͤhern Mathematik, als abſtracter Be-
griff eben ſo gut ohne Anſtoß gebraucht werden
kann, als viel andere Begriffe, die auch nur in
der Abſtraction ſtatt finden, und doch den Ge-
genſtand einer ganzen Wiſſenſchaft ausmachen.

VI. So ſprechen wir in der Geometrie von
einer Linie, ohne an die Flaͤche zu denken,

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[31/0049] Differenzial-Rechnung. Vorbegriffe. ſignabili). Man ſagt in dieſem Falle daß ſie unendlich werde. V. Der Begriff des Unendlichen beruht alſo bloß auf der denkbaren Moͤglichkeit des Wachs- thums einer Zahl oder Groͤſſe uͤberhaupt, uͤber jede angebliche Graͤnze hinaus. Aber wir duͤr- fen uns das Unendliche nie als voͤllig erreicht, als ein voͤllig beſtimmtes, das durch irgend eine Zahl dargeſtellt werden koͤnnte, gedenken. Man hat daher zur Bezeichnung des Unendlichen das Zeichen ∞ eingefuͤhrt, um dem Verſtande die Freyheit zu laſſen, die Graͤnze uͤber welche eine Zahl oder Groͤſſe ſteigt, ſich ſo weit als man will hinauszudenken. Aber jede Graͤnze die man fuͤr ein ſolches Wachsthum wuͤrklich ſetzt, iſt end- lich, und bloß darin, daß jede Graͤnze uͤber- ſchritten, und keine letzte gedacht werden kann, ſetzen wir den Begriff des Unendlichen, der denn in der hoͤhern Mathematik, als abſtracter Be- griff eben ſo gut ohne Anſtoß gebraucht werden kann, als viel andere Begriffe, die auch nur in der Abſtraction ſtatt finden, und doch den Ge- genſtand einer ganzen Wiſſenſchaft ausmachen. VI. So ſprechen wir in der Geometrie von einer Linie, ohne an die Flaͤche zu denken, von

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Zitationshilfe: Mayer, Johann Tobias: Vollständiger Lehrbegriff der höhern Analysis. Bd. 1. Göttingen, 1818, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mayer_analysis01_1818/49>, abgerufen am 20.04.2024.