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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

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"Schön! Holt die Tiere herein und schafft sie nach
dem innern Hof!"

"Auch meinen Esel?"

"Ja. Dann schließt ihr die Thür!"

Ich selbst holte den weißen Shawl und breitete ihn
oben auf der Plattform aus. Dann ließ ich mir einige
Decken kommen und legte mich in der Weise darauf, daß
ich von unten nicht bemerkt werden konnte. Die beiden
Diener nahmen später unweit von mir Platz.

Es war mittlerweile so licht geworden, daß man
ziemlich deutlich sehen konnte. Der Nebel wallte bereits
im Thale auf; aber noch immer brannten die Lichter und
Flammen des Heiligtums, ein Anblick, der dem Auge wehe
zu thun begann.

So vergingen fünf, ja zehn erwartungsvolle Minuten.
Da hörte ich drüben am Abhange ein Pferd wiehern, noch
eins, und dann antwortete ein drittes hüben von der
andern Seite. Es war klar: die Truppen rückten zu
gleicher Zeit an beiden Seiten in das Thal hernieder.
Die Befehle des Miralai wurden mit großer Pünktlichkeit
befolgt.

"Sie kommen!" meinte Halef.

"Ja, sie kommen!" bestätigte Ifra. "Herr, wenn sie
uns nun für Dschesidi halten und auf uns schießen?"

"Dann lässest du deinen Esel hinaus, an welchem sie
dich sofort erkennen werden!"

Kavallerie war jedenfalls nicht dabei; die Pferde,
welche gewiehert hatten, waren Offizierspferde. Man hätte
das Pferdegetrappel hören müssen. Nach und nach aber
ließ sich ein Geräusch bemerken, das immer hörbarer
wurde. Es war der Tritt vieler Menschen, die näher
kamen.

Endlich ertönten Stimmen von dem Grabmale her,

„Schön! Holt die Tiere herein und ſchafft ſie nach
dem innern Hof!“

„Auch meinen Eſel?“

„Ja. Dann ſchließt ihr die Thür!“

Ich ſelbſt holte den weißen Shawl und breitete ihn
oben auf der Plattform aus. Dann ließ ich mir einige
Decken kommen und legte mich in der Weiſe darauf, daß
ich von unten nicht bemerkt werden konnte. Die beiden
Diener nahmen ſpäter unweit von mir Platz.

Es war mittlerweile ſo licht geworden, daß man
ziemlich deutlich ſehen konnte. Der Nebel wallte bereits
im Thale auf; aber noch immer brannten die Lichter und
Flammen des Heiligtums, ein Anblick, der dem Auge wehe
zu thun begann.

So vergingen fünf, ja zehn erwartungsvolle Minuten.
Da hörte ich drüben am Abhange ein Pferd wiehern, noch
eins, und dann antwortete ein drittes hüben von der
andern Seite. Es war klar: die Truppen rückten zu
gleicher Zeit an beiden Seiten in das Thal hernieder.
Die Befehle des Miralai wurden mit großer Pünktlichkeit
befolgt.

„Sie kommen!“ meinte Halef.

„Ja, ſie kommen!“ beſtätigte Ifra. „Herr, wenn ſie
uns nun für Dſcheſidi halten und auf uns ſchießen?“

„Dann läſſeſt du deinen Eſel hinaus, an welchem ſie
dich ſofort erkennen werden!“

Kavallerie war jedenfalls nicht dabei; die Pferde,
welche gewiehert hatten, waren Offizierspferde. Man hätte
das Pferdegetrappel hören müſſen. Nach und nach aber
ließ ſich ein Geräuſch bemerken, das immer hörbarer
wurde. Es war der Tritt vieler Menſchen, die näher
kamen.

Endlich ertönten Stimmen von dem Grabmale her,

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[46/0060] „Schön! Holt die Tiere herein und ſchafft ſie nach dem innern Hof!“ „Auch meinen Eſel?“ „Ja. Dann ſchließt ihr die Thür!“ Ich ſelbſt holte den weißen Shawl und breitete ihn oben auf der Plattform aus. Dann ließ ich mir einige Decken kommen und legte mich in der Weiſe darauf, daß ich von unten nicht bemerkt werden konnte. Die beiden Diener nahmen ſpäter unweit von mir Platz. Es war mittlerweile ſo licht geworden, daß man ziemlich deutlich ſehen konnte. Der Nebel wallte bereits im Thale auf; aber noch immer brannten die Lichter und Flammen des Heiligtums, ein Anblick, der dem Auge wehe zu thun begann. So vergingen fünf, ja zehn erwartungsvolle Minuten. Da hörte ich drüben am Abhange ein Pferd wiehern, noch eins, und dann antwortete ein drittes hüben von der andern Seite. Es war klar: die Truppen rückten zu gleicher Zeit an beiden Seiten in das Thal hernieder. Die Befehle des Miralai wurden mit großer Pünktlichkeit befolgt. „Sie kommen!“ meinte Halef. „Ja, ſie kommen!“ beſtätigte Ifra. „Herr, wenn ſie uns nun für Dſcheſidi halten und auf uns ſchießen?“ „Dann läſſeſt du deinen Eſel hinaus, an welchem ſie dich ſofort erkennen werden!“ Kavallerie war jedenfalls nicht dabei; die Pferde, welche gewiehert hatten, waren Offizierspferde. Man hätte das Pferdegetrappel hören müſſen. Nach und nach aber ließ ſich ein Geräuſch bemerken, das immer hörbarer wurde. Es war der Tritt vieler Menſchen, die näher kamen. Endlich ertönten Stimmen von dem Grabmale her,

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Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/60>, abgerufen am 05.05.2024.