"In welchen Angelegenheiten darf man mit dem Geiste sprechen?"
"In allen. Man kann ihn um etwas bitten; man kann einen andern verklagen; man kann sich auch nach etwas erkundigen."
"Aber ich denke, der Geist spricht nicht! Wie erhält man seine Antwort?"
"Wenn man den Wunsch gesagt hat, so geht man bis an das Bild zurück und wartet kurze Zeit. Beginnt das Licht wieder zu brennen, so ist die Bitte erfüllt, und nach kurzer Zeit, oft schon in der ersten Nacht noch er- hält man auf irgend eine Weise die Nachricht, welche man erwartet hat."
"Was ist das für ein Bild, von dem du redest?"
"Es ist ein hoher Pfahl, an welchem das Bild der heiligen Mutter Gottes befestigt ist."
Das überraschte mich, da ich wußte, daß die Chaldani lehren, die heilige Maria sei nicht die Mutter Gottes, sondern nur die Mutter des Menschen Jesus. Der ge- heimnisvolle Ruh 'i kulyan schien sonach ein guter Katholik zu sein.
"Wie lange bereits steht dieses Bild?" fragte ich.
"Ich weiß es nicht; es steht schon länger als ich lebe."
"Und hat noch kein Kurde oder Chaldani gesagt, daß es fort müsse?"
"Nein, denn dann würde der Ruh 'i kulyan für immer verschwunden sein."
"Und dies wünscht niemand?"
"Niemand, Herr. Der Geist thut Wohlthat über Wohlthat in der ganzen Gegend. Er beglückt die Armen und beratet die Reichen; er beschützt die Schwachen und bedroht die Mächtigen; der Gute hofft auf ihn, und der Böse zittert vor ihm. Wenn ich den Vater bitte, dich
„In welchen Angelegenheiten darf man mit dem Geiſte ſprechen?“
„In allen. Man kann ihn um etwas bitten; man kann einen andern verklagen; man kann ſich auch nach etwas erkundigen.“
„Aber ich denke, der Geiſt ſpricht nicht! Wie erhält man ſeine Antwort?“
„Wenn man den Wunſch geſagt hat, ſo geht man bis an das Bild zurück und wartet kurze Zeit. Beginnt das Licht wieder zu brennen, ſo iſt die Bitte erfüllt, und nach kurzer Zeit, oft ſchon in der erſten Nacht noch er- hält man auf irgend eine Weiſe die Nachricht, welche man erwartet hat.“
„Was iſt das für ein Bild, von dem du redeſt?“
„Es iſt ein hoher Pfahl, an welchem das Bild der heiligen Mutter Gottes befeſtigt iſt.“
Das überraſchte mich, da ich wußte, daß die Chaldani lehren, die heilige Maria ſei nicht die Mutter Gottes, ſondern nur die Mutter des Menſchen Jeſus. Der ge- heimnisvolle Ruh 'i kulyan ſchien ſonach ein guter Katholik zu ſein.
„Wie lange bereits ſteht dieſes Bild?“ fragte ich.
„Ich weiß es nicht; es ſteht ſchon länger als ich lebe.“
„Und hat noch kein Kurde oder Chaldani geſagt, daß es fort müſſe?“
„Nein, denn dann würde der Ruh 'i kulyan für immer verſchwunden ſein.“
„Und dies wünſcht niemand?“
„Niemand, Herr. Der Geiſt thut Wohlthat über Wohlthat in der ganzen Gegend. Er beglückt die Armen und beratet die Reichen; er beſchützt die Schwachen und bedroht die Mächtigen; der Gute hofft auf ihn, und der Böſe zittert vor ihm. Wenn ich den Vater bitte, dich
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„In welchen Angelegenheiten darf man mit dem
Geiſte ſprechen?“
„In allen. Man kann ihn um etwas bitten; man
kann einen andern verklagen; man kann ſich auch nach
etwas erkundigen.“
„Aber ich denke, der Geiſt ſpricht nicht! Wie erhält
man ſeine Antwort?“
„Wenn man den Wunſch geſagt hat, ſo geht man
bis an das Bild zurück und wartet kurze Zeit. Beginnt
das Licht wieder zu brennen, ſo iſt die Bitte erfüllt, und
nach kurzer Zeit, oft ſchon in der erſten Nacht noch er-
hält man auf irgend eine Weiſe die Nachricht, welche man
erwartet hat.“
„Was iſt das für ein Bild, von dem du redeſt?“
„Es iſt ein hoher Pfahl, an welchem das Bild der
heiligen Mutter Gottes befeſtigt iſt.“
Das überraſchte mich, da ich wußte, daß die Chaldani
lehren, die heilige Maria ſei nicht die Mutter Gottes,
ſondern nur die Mutter des Menſchen Jeſus. Der ge-
heimnisvolle Ruh 'i kulyan ſchien ſonach ein guter Katholik
zu ſein.
„Wie lange bereits ſteht dieſes Bild?“ fragte ich.
„Ich weiß es nicht; es ſteht ſchon länger als ich lebe.“
„Und hat noch kein Kurde oder Chaldani geſagt,
daß es fort müſſe?“
„Nein, denn dann würde der Ruh 'i kulyan für
immer verſchwunden ſein.“
„Und dies wünſcht niemand?“
„Niemand, Herr. Der Geiſt thut Wohlthat über
Wohlthat in der ganzen Gegend. Er beglückt die Armen
und beratet die Reichen; er beſchützt die Schwachen und
bedroht die Mächtigen; der Gute hofft auf ihn, und der
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 569. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/583>, abgerufen am 27.11.2024.
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