"Du hast mir auch versprochen, daß du nicht fliehen willst!"
"Wer hat dir gesagt, daß wir fliehen wollen? Ver- haltet euch als Freunde, so wird es uns bei euch ganz wohl gefallen."
"Du selbst hast ja die Feindseligkeiten begonnen!"
"Melek, du nennst mich einen Lügner und sagst doch soeben selbst eine Lüge. Ihr selbst habt uns und die Kurden von Gumri überfallen. Und als wir im Frieden hier am Feuer lagen, hat dein Bruder auf uns geschossen. Wer also hat die Feindseligkeit begonnen, wir oder ihr?"
"Es galt nur deinem Hund!"
"Deine Gedanken sind ganz kurz, Melek! Mein Hund sollte getötet werden, damit er nicht mehr im stande sei, uns zu schützen. Er hat für mich einen größeren Wert, als das Leben von hundert Chaldani. Wer ihm ein Haar krümmt, oder wer nur einen Zipfel unseres Gewandes beschädigt, der wird von uns behandelt, wie der Vorsichtige einen tollen Hund behandelt, den man, um sich zu retten, töten muß. Das Leben deines Bruders stand in meiner Hand; ich habe ihm nur eine Kugel in den Arm gegeben, damit er sein Gewehr nicht wieder meuchlings erheben kann. Auch das deinige gehörte mir, und ich habe es dir gelassen. Was wirst du über uns beschließen?"
"Nichts anderes, als was ich dir bereits sagte. Oder weißt du nicht, was die Blutrache bedeutet?"
"Habe ich deinen Bruder getötet?"
"Sein Blut ist geflossen!"
"Er selbst trägt die Schuld daran! Was überhaupt geht denn dich seine Rache an?"
"Ich bin sein Bruder und Erbe!"
"Jetzt lebt er noch und kann sich selbst rächen. Oder ist er ein Kind, daß du schon vor seinem Tode für ihn
„Du haſt mir auch verſprochen, daß du nicht fliehen willſt!“
„Wer hat dir geſagt, daß wir fliehen wollen? Ver- haltet euch als Freunde, ſo wird es uns bei euch ganz wohl gefallen.“
„Du ſelbſt haſt ja die Feindſeligkeiten begonnen!“
„Melek, du nennſt mich einen Lügner und ſagſt doch ſoeben ſelbſt eine Lüge. Ihr ſelbſt habt uns und die Kurden von Gumri überfallen. Und als wir im Frieden hier am Feuer lagen, hat dein Bruder auf uns geſchoſſen. Wer alſo hat die Feindſeligkeit begonnen, wir oder ihr?“
„Es galt nur deinem Hund!“
„Deine Gedanken ſind ganz kurz, Melek! Mein Hund ſollte getötet werden, damit er nicht mehr im ſtande ſei, uns zu ſchützen. Er hat für mich einen größeren Wert, als das Leben von hundert Chaldani. Wer ihm ein Haar krümmt, oder wer nur einen Zipfel unſeres Gewandes beſchädigt, der wird von uns behandelt, wie der Vorſichtige einen tollen Hund behandelt, den man, um ſich zu retten, töten muß. Das Leben deines Bruders ſtand in meiner Hand; ich habe ihm nur eine Kugel in den Arm gegeben, damit er ſein Gewehr nicht wieder meuchlings erheben kann. Auch das deinige gehörte mir, und ich habe es dir gelaſſen. Was wirſt du über uns beſchließen?“
„Nichts anderes, als was ich dir bereits ſagte. Oder weißt du nicht, was die Blutrache bedeutet?“
„Habe ich deinen Bruder getötet?“
„Sein Blut iſt gefloſſen!“
„Er ſelbſt trägt die Schuld daran! Was überhaupt geht denn dich ſeine Rache an?“
„Ich bin ſein Bruder und Erbe!“
„Jetzt lebt er noch und kann ſich ſelbſt rächen. Oder iſt er ein Kind, daß du ſchon vor ſeinem Tode für ihn
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[502/0516]
„Du haſt mir auch verſprochen, daß du nicht fliehen
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„Wer hat dir geſagt, daß wir fliehen wollen? Ver-
haltet euch als Freunde, ſo wird es uns bei euch ganz
wohl gefallen.“
„Du ſelbſt haſt ja die Feindſeligkeiten begonnen!“
„Melek, du nennſt mich einen Lügner und ſagſt doch
ſoeben ſelbſt eine Lüge. Ihr ſelbſt habt uns und die
Kurden von Gumri überfallen. Und als wir im Frieden
hier am Feuer lagen, hat dein Bruder auf uns geſchoſſen.
Wer alſo hat die Feindſeligkeit begonnen, wir oder ihr?“
„Es galt nur deinem Hund!“
„Deine Gedanken ſind ganz kurz, Melek! Mein Hund
ſollte getötet werden, damit er nicht mehr im ſtande ſei,
uns zu ſchützen. Er hat für mich einen größeren Wert,
als das Leben von hundert Chaldani. Wer ihm ein Haar
krümmt, oder wer nur einen Zipfel unſeres Gewandes
beſchädigt, der wird von uns behandelt, wie der Vorſichtige
einen tollen Hund behandelt, den man, um ſich zu retten,
töten muß. Das Leben deines Bruders ſtand in meiner
Hand; ich habe ihm nur eine Kugel in den Arm gegeben,
damit er ſein Gewehr nicht wieder meuchlings erheben
kann. Auch das deinige gehörte mir, und ich habe es dir
gelaſſen. Was wirſt du über uns beſchließen?“
„Nichts anderes, als was ich dir bereits ſagte. Oder
weißt du nicht, was die Blutrache bedeutet?“
„Habe ich deinen Bruder getötet?“
„Sein Blut iſt gefloſſen!“
„Er ſelbſt trägt die Schuld daran! Was überhaupt
geht denn dich ſeine Rache an?“
„Ich bin ſein Bruder und Erbe!“
„Jetzt lebt er noch und kann ſich ſelbſt rächen. Oder
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 502. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/516>, abgerufen am 23.12.2024.
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