Je sicherer man im Oriente auftritt, desto freund- licher wird man behandelt. Zudem war dieser Mann ein Jude, also nur ein in Amadijah Geduldeter; er wagte es nicht, sich zu widersetzen. Wir wurden von ihm durch eine Reihe von Gassen und Bazars geführt, die alle den Eindruck des Verfallens auf mich machten.
Diese wichtige Grenzfestung schien sehr vernachlässigt zu werden. Es gab kein Leben in den Straßen und Lä- den; nur wenige Menschen begegneten uns, und die, welche wir sahen, hatten ein krankhaftes, gedrücktes Aus- sehen und waren lebende Zeugnisse für die bekannte Un- gesundheit dieser Stadt.
Der Serai verdiente seinem Aeußern nach den Namen eines Palastes nicht im geringsten. Er glich einer aus- gebesserten Ruine, vor deren Eingang nicht einmal eine Wache zu sehen war. Wir stiegen ab und übergaben Halef, dem Kurden und dem Buluk Emini, der uns wieder eingeholt hatte, unsere Pferde. Nachdem der Jude ein Geschenk erhalten hatte, wofür er sich enthusiastisch bedankte, traten wir ein.
Erst nachdem wir einige Gänge durchwandert hatten, kam uns ein Mann entgegen, der bei unserem Anblick seinen langsamen Gang in einen schnellen Lauf verwandelte.
"Wer seid ihr? Was wollt ihr hier?" fragte er mit zorniger Stimme.
"Mann, rede anders, sonst werde ich dir zeigen, was Höflichkeit ist! Wer bist du?"
"Ich bin der Aufseher dieses Palastes."
"Ist der Mutesselim zu sprechen?"
"Nein."
"Wo ist er?"
„Ja, Herr.“
„Führe uns nach ſeinem Serai!“
Je ſicherer man im Oriente auftritt, deſto freund- licher wird man behandelt. Zudem war dieſer Mann ein Jude, alſo nur ein in Amadijah Geduldeter; er wagte es nicht, ſich zu widerſetzen. Wir wurden von ihm durch eine Reihe von Gaſſen und Bazars geführt, die alle den Eindruck des Verfallens auf mich machten.
Dieſe wichtige Grenzfeſtung ſchien ſehr vernachläſſigt zu werden. Es gab kein Leben in den Straßen und Lä- den; nur wenige Menſchen begegneten uns, und die, welche wir ſahen, hatten ein krankhaftes, gedrücktes Aus- ſehen und waren lebende Zeugniſſe für die bekannte Un- geſundheit dieſer Stadt.
Der Serai verdiente ſeinem Aeußern nach den Namen eines Palaſtes nicht im geringſten. Er glich einer aus- gebeſſerten Ruine, vor deren Eingang nicht einmal eine Wache zu ſehen war. Wir ſtiegen ab und übergaben Halef, dem Kurden und dem Buluk Emini, der uns wieder eingeholt hatte, unſere Pferde. Nachdem der Jude ein Geſchenk erhalten hatte, wofür er ſich enthuſiaſtiſch bedankte, traten wir ein.
Erſt nachdem wir einige Gänge durchwandert hatten, kam uns ein Mann entgegen, der bei unſerem Anblick ſeinen langſamen Gang in einen ſchnellen Lauf verwandelte.
„Wer ſeid ihr? Was wollt ihr hier?“ fragte er mit zorniger Stimme.
„Mann, rede anders, ſonſt werde ich dir zeigen, was Höflichkeit iſt! Wer biſt du?“
„Ich bin der Aufſeher dieſes Palaſtes.“
„Iſt der Muteſſelim zu ſprechen?“
„Nein.“
„Wo iſt er?“
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„Ja, Herr.“
„Führe uns nach ſeinem Serai!“
Je ſicherer man im Oriente auftritt, deſto freund-
licher wird man behandelt. Zudem war dieſer Mann ein
Jude, alſo nur ein in Amadijah Geduldeter; er wagte
es nicht, ſich zu widerſetzen. Wir wurden von ihm durch
eine Reihe von Gaſſen und Bazars geführt, die alle den
Eindruck des Verfallens auf mich machten.
Dieſe wichtige Grenzfeſtung ſchien ſehr vernachläſſigt
zu werden. Es gab kein Leben in den Straßen und Lä-
den; nur wenige Menſchen begegneten uns, und die,
welche wir ſahen, hatten ein krankhaftes, gedrücktes Aus-
ſehen und waren lebende Zeugniſſe für die bekannte Un-
geſundheit dieſer Stadt.
Der Serai verdiente ſeinem Aeußern nach den Namen
eines Palaſtes nicht im geringſten. Er glich einer aus-
gebeſſerten Ruine, vor deren Eingang nicht einmal eine
Wache zu ſehen war. Wir ſtiegen ab und übergaben
Halef, dem Kurden und dem Buluk Emini, der uns
wieder eingeholt hatte, unſere Pferde. Nachdem der Jude
ein Geſchenk erhalten hatte, wofür er ſich enthuſiaſtiſch
bedankte, traten wir ein.
Erſt nachdem wir einige Gänge durchwandert hatten,
kam uns ein Mann entgegen, der bei unſerem Anblick
ſeinen langſamen Gang in einen ſchnellen Lauf verwandelte.
„Wer ſeid ihr? Was wollt ihr hier?“ fragte er mit
zorniger Stimme.
„Mann, rede anders, ſonſt werde ich dir zeigen, was
Höflichkeit iſt! Wer biſt du?“
„Ich bin der Aufſeher dieſes Palaſtes.“
„Iſt der Muteſſelim zu ſprechen?“
„Nein.“
„Wo iſt er?“
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May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/171>, abgerufen am 27.11.2024.
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