Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892].

Bild:
<< vorherige Seite

"Laß ein Feuer anmachen, so werde ich es dir be-
weisen!"

Noch war Pali zugegen. Auf einen Wink Alis suchte
er dürre Aeste zusammen und steckte sie in Brand. Ich
kauerte mich nieder und hielt das Papier vorsichtig über
die Flammen. Da that der Kaimakam einen schnellen
Sprung auf mich zu und suchte es mir zu entreißen. Ich
hatte das erwartet, wich ebenso schnell zur Seite, und er
fiel strauchelnd zu Boden. Sofort kniete Ali Bey auf ihm.

"Halt, Kaimakam!" rief er; "du bist falsch und treu-
los; du bist jetzt zu mir gekommen, ohne dich vorher
meines Schutzes zu versichern, und ich mache dich zu mei-
nem Gefangenen!"

Der Offizier wehrte sich, so gut er es vermochte, aber
wir waren ja drei gegen einen, und zudem kamen auch
andere Dschesidi, welche in der Nähe gehalten hatten,
herbei. Er wurde entwaffnet, gebunden und in das Zelt
geschafft.

Nun konnte ich mein Experiment vollenden. Die
Flamme erhitzte das Papier beinahe bis zum Versengen,
und nun kamen sehr deutliche Worte zum Vorscheine,
welche an dem Rande der Zeilen standen.

"Ali Bey, siehst du, daß ich recht hatte?"

"Emir, du bist ein Zauberer!"

"Nein; aber ich weiß, wie man solche Schriften
sichtbar machen kann."

"O, Effendi, die Weisheit der Nemtsche ist sehr groß!"

"Hat der Mutessarif dieses Zauberstück nicht ebenso
verstanden? Es giebt Stoffe, aus denen man eine Tinte
machen kann, welche nach dem Schreiben verschwindet und
mit einem andern Mittel gezwungen wird, wieder sichtbar
zu werden. Die Wissenschaft, welche diese Mittel kennt,
heißt Chemie oder Scheidekunst. Sie wird bei uns mehr

„Laß ein Feuer anmachen, ſo werde ich es dir be-
weiſen!“

Noch war Pali zugegen. Auf einen Wink Alis ſuchte
er dürre Aeſte zuſammen und ſteckte ſie in Brand. Ich
kauerte mich nieder und hielt das Papier vorſichtig über
die Flammen. Da that der Kaimakam einen ſchnellen
Sprung auf mich zu und ſuchte es mir zu entreißen. Ich
hatte das erwartet, wich ebenſo ſchnell zur Seite, und er
fiel ſtrauchelnd zu Boden. Sofort kniete Ali Bey auf ihm.

„Halt, Kaimakam!“ rief er; „du biſt falſch und treu-
los; du biſt jetzt zu mir gekommen, ohne dich vorher
meines Schutzes zu verſichern, und ich mache dich zu mei-
nem Gefangenen!“

Der Offizier wehrte ſich, ſo gut er es vermochte, aber
wir waren ja drei gegen einen, und zudem kamen auch
andere Dſcheſidi, welche in der Nähe gehalten hatten,
herbei. Er wurde entwaffnet, gebunden und in das Zelt
geſchafft.

Nun konnte ich mein Experiment vollenden. Die
Flamme erhitzte das Papier beinahe bis zum Verſengen,
und nun kamen ſehr deutliche Worte zum Vorſcheine,
welche an dem Rande der Zeilen ſtanden.

„Ali Bey, ſiehſt du, daß ich recht hatte?“

„Emir, du biſt ein Zauberer!“

„Nein; aber ich weiß, wie man ſolche Schriften
ſichtbar machen kann.“

„O, Effendi, die Weisheit der Nemtſche iſt ſehr groß!“

„Hat der Muteſſarif dieſes Zauberſtück nicht ebenſo
verſtanden? Es giebt Stoffe, aus denen man eine Tinte
machen kann, welche nach dem Schreiben verſchwindet und
mit einem andern Mittel gezwungen wird, wieder ſichtbar
zu werden. Die Wiſſenſchaft, welche dieſe Mittel kennt,
heißt Chemie oder Scheidekunſt. Sie wird bei uns mehr

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0108" n="94"/>
        <p>&#x201E;Laß ein Feuer anmachen, &#x017F;o werde ich es dir be-<lb/>
wei&#x017F;en!&#x201C;</p><lb/>
        <p>Noch war Pali zugegen. Auf einen Wink Alis &#x017F;uchte<lb/>
er dürre Ae&#x017F;te zu&#x017F;ammen und &#x017F;teckte &#x017F;ie in Brand. Ich<lb/>
kauerte mich nieder und hielt das Papier vor&#x017F;ichtig über<lb/>
die Flammen. Da that der Kaimakam einen &#x017F;chnellen<lb/>
Sprung auf mich zu und &#x017F;uchte es mir zu entreißen. Ich<lb/>
hatte das erwartet, wich eben&#x017F;o &#x017F;chnell zur Seite, und er<lb/>
fiel &#x017F;trauchelnd zu Boden. Sofort kniete Ali Bey auf ihm.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Halt, Kaimakam!&#x201C; rief er; &#x201E;du bi&#x017F;t fal&#x017F;ch und treu-<lb/>
los; du bi&#x017F;t jetzt zu mir gekommen, ohne dich vorher<lb/>
meines Schutzes zu ver&#x017F;ichern, und ich mache dich zu mei-<lb/>
nem Gefangenen!&#x201C;</p><lb/>
        <p>Der Offizier wehrte &#x017F;ich, &#x017F;o gut er es vermochte, aber<lb/>
wir waren ja drei gegen einen, und zudem kamen auch<lb/>
andere D&#x017F;che&#x017F;idi, welche in der Nähe gehalten hatten,<lb/>
herbei. Er wurde entwaffnet, gebunden und in das Zelt<lb/>
ge&#x017F;chafft.</p><lb/>
        <p>Nun konnte ich mein Experiment vollenden. Die<lb/>
Flamme erhitzte das Papier beinahe bis zum Ver&#x017F;engen,<lb/>
und nun kamen &#x017F;ehr deutliche Worte zum Vor&#x017F;cheine,<lb/>
welche an dem Rande der Zeilen &#x017F;tanden.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ali Bey, &#x017F;ieh&#x017F;t du, daß ich recht hatte?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Emir, du bi&#x017F;t ein Zauberer!&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Nein; aber ich weiß, wie man &#x017F;olche Schriften<lb/>
&#x017F;ichtbar machen kann.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;O, Effendi, die Weisheit der Nemt&#x017F;che i&#x017F;t &#x017F;ehr groß!&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Hat der Mute&#x017F;&#x017F;arif die&#x017F;es Zauber&#x017F;tück nicht eben&#x017F;o<lb/>
ver&#x017F;tanden? Es giebt Stoffe, aus denen man eine Tinte<lb/>
machen kann, welche nach dem Schreiben ver&#x017F;chwindet und<lb/>
mit einem andern Mittel gezwungen wird, wieder &#x017F;ichtbar<lb/>
zu werden. Die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft, welche die&#x017F;e Mittel kennt,<lb/>
heißt Chemie oder Scheidekun&#x017F;t. Sie wird bei uns mehr<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[94/0108] „Laß ein Feuer anmachen, ſo werde ich es dir be- weiſen!“ Noch war Pali zugegen. Auf einen Wink Alis ſuchte er dürre Aeſte zuſammen und ſteckte ſie in Brand. Ich kauerte mich nieder und hielt das Papier vorſichtig über die Flammen. Da that der Kaimakam einen ſchnellen Sprung auf mich zu und ſuchte es mir zu entreißen. Ich hatte das erwartet, wich ebenſo ſchnell zur Seite, und er fiel ſtrauchelnd zu Boden. Sofort kniete Ali Bey auf ihm. „Halt, Kaimakam!“ rief er; „du biſt falſch und treu- los; du biſt jetzt zu mir gekommen, ohne dich vorher meines Schutzes zu verſichern, und ich mache dich zu mei- nem Gefangenen!“ Der Offizier wehrte ſich, ſo gut er es vermochte, aber wir waren ja drei gegen einen, und zudem kamen auch andere Dſcheſidi, welche in der Nähe gehalten hatten, herbei. Er wurde entwaffnet, gebunden und in das Zelt geſchafft. Nun konnte ich mein Experiment vollenden. Die Flamme erhitzte das Papier beinahe bis zum Verſengen, und nun kamen ſehr deutliche Worte zum Vorſcheine, welche an dem Rande der Zeilen ſtanden. „Ali Bey, ſiehſt du, daß ich recht hatte?“ „Emir, du biſt ein Zauberer!“ „Nein; aber ich weiß, wie man ſolche Schriften ſichtbar machen kann.“ „O, Effendi, die Weisheit der Nemtſche iſt ſehr groß!“ „Hat der Muteſſarif dieſes Zauberſtück nicht ebenſo verſtanden? Es giebt Stoffe, aus denen man eine Tinte machen kann, welche nach dem Schreiben verſchwindet und mit einem andern Mittel gezwungen wird, wieder ſichtbar zu werden. Die Wiſſenſchaft, welche dieſe Mittel kennt, heißt Chemie oder Scheidekunſt. Sie wird bei uns mehr

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/108
Zitationshilfe: May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/108>, abgerufen am 22.11.2024.