einer Schlafstube sein, ohne Feuerherd, ohne Abtritt, ohne öffenbare Fenster, ohne Wasserzufuhr ausser dem Graben, ohne Garten, der Arbeiter ist hilflos gegen die Unbill. Und unsere gesundheitspolizeilichen Gesetze ("The Nuisances Removal Acts") sind ein todter Buchstabe. Ihre Aus- führung ist ja grade den Eigenthümern anvertraut, welche solche Löcher vermiethen ... Man muss sich durch ausnahmsweise lichtvollere Scenen nicht blenden lassen über das erdrückende Uebergewicht der Thatsachen, die ein Schandfleck der englischen Civilisation sind. Schauderhaft muss in der That die Lage der Dinge sein, wenn, trotz der augenfälligen Unge- heuerlichkeit der gegenwärtigen Behausung, kompetente Beobachter ein- stimmig zu dem Schlussresultat gelangen, dass selbst die allgemeine Nichtswürdigkeit der Wohnungen noch ein unendlich minder drückendes Uebel ist als ihr bloss numerischer Mangel. Seit Jahren war die Ueber- stopfung der Wohnungen der Landarbeiter ein Gegenstand tiefen Kum- mers nicht nur für Personen, die auf Gesundheit, sondern für alle, die auf anständiges und moralisches Leben halten. Denn, wieder und wieder, in Phrasen so gleichförmig, dass sie stereotypirt zu sein scheinen, denunciren die Berichterstatter über die Verbreitung epidemischer Krankheiten in den Ruraldistrikten Haus-Ueberfüllung als einen Einfluss, der jeden Versuch, den Fortschritt einer einmal eingeführten Epidemie aufzuhalten, durchaus vereitelt. Und wieder und wieder ward nachgewiesen, dass den vielen gesundheitlichen Einflüssen des Landlebens zum Trotz die Agglomeration, welche das Umsichgreifen ansteckender Krankheiten so sehr beschleunigt, auch die Entstehung nicht ansteckender Krankheiten fördert. Und die Personen, welche diesen Zustand denuncirt haben, verschwiegen weiteres Unheil nicht. Selbst wo ihr ursprüngliches Thema nur die Gesundheits- pflege betraf, waren sie beinahe gezwungen auf die andern Seiten des Gegenstandes einzugehn. Indem sie nachwiesen, wie häufig es sich er- eignet, dass erwachsne Personen beiderlei Geschlechts, verheirathet und unverheirathet, zusammengehudelt ("huddled") werden in engen Schlaf- stuben, mussten ihre Berichte die Ueberzeugung hervorrufen, dass unter den beschriebenen Umständen Scham- und Anstandsgefühl aufs gröbste verletzt und alle Moralität fast nothwendig ruinirt wird167).
167) "Jung verheirathete Paare sind kein erbauliches Studium für erwachsne Brüder und Schwestern in derselben Schlafstube; und obgleich Beispiele nicht
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einer Schlafstube sein, ohne Feuerherd, ohne Abtritt, ohne öffenbare Fenster, ohne Wasserzufuhr ausser dem Graben, ohne Garten, der Arbeiter ist hilflos gegen die Unbill. Und unsere gesundheitspolizeilichen Gesetze („The Nuisances Removal Acts“) sind ein todter Buchstabe. Ihre Aus- führung ist ja grade den Eigenthümern anvertraut, welche solche Löcher vermiethen … Man muss sich durch ausnahmsweise lichtvollere Scenen nicht blenden lassen über das erdrückende Uebergewicht der Thatsachen, die ein Schandfleck der englischen Civilisation sind. Schauderhaft muss in der That die Lage der Dinge sein, wenn, trotz der augenfälligen Unge- heuerlichkeit der gegenwärtigen Behausung, kompetente Beobachter ein- stimmig zu dem Schlussresultat gelangen, dass selbst die allgemeine Nichtswürdigkeit der Wohnungen noch ein unendlich minder drückendes Uebel ist als ihr bloss numerischer Mangel. Seit Jahren war die Ueber- stopfung der Wohnungen der Landarbeiter ein Gegenstand tiefen Kum- mers nicht nur für Personen, die auf Gesundheit, sondern für alle, die auf anständiges und moralisches Leben halten. Denn, wieder und wieder, in Phrasen so gleichförmig, dass sie stereotypirt zu sein scheinen, denunciren die Berichterstatter über die Verbreitung epidemischer Krankheiten in den Ruraldistrikten Haus-Ueberfüllung als einen Einfluss, der jeden Versuch, den Fortschritt einer einmal eingeführten Epidemie aufzuhalten, durchaus vereitelt. Und wieder und wieder ward nachgewiesen, dass den vielen gesundheitlichen Einflüssen des Landlebens zum Trotz die Agglomeration, welche das Umsichgreifen ansteckender Krankheiten so sehr beschleunigt, auch die Entstehung nicht ansteckender Krankheiten fördert. Und die Personen, welche diesen Zustand denuncirt haben, verschwiegen weiteres Unheil nicht. Selbst wo ihr ursprüngliches Thema nur die Gesundheits- pflege betraf, waren sie beinahe gezwungen auf die andern Seiten des Gegenstandes einzugehn. Indem sie nachwiesen, wie häufig es sich er- eignet, dass erwachsne Personen beiderlei Geschlechts, verheirathet und unverheirathet, zusammengehudelt („huddled“) werden in engen Schlaf- stuben, mussten ihre Berichte die Ueberzeugung hervorrufen, dass unter den beschriebenen Umständen Scham- und Anstandsgefühl aufs gröbste verletzt und alle Moralität fast nothwendig ruinirt wird167).
167) „Jung verheirathete Paare sind kein erbauliches Studium für erwachsne Brüder und Schwestern in derselben Schlafstube; und obgleich Beispiele nicht
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einer Schlafstube sein, ohne Feuerherd, ohne Abtritt, ohne öffenbare
Fenster, ohne Wasserzufuhr ausser dem Graben, ohne Garten, der Arbeiter
ist hilflos gegen die Unbill. Und unsere gesundheitspolizeilichen Gesetze
(„The Nuisances Removal Acts“) sind ein todter Buchstabe. Ihre Aus-
führung ist ja grade den Eigenthümern anvertraut, welche solche Löcher
vermiethen … Man muss sich durch ausnahmsweise lichtvollere Scenen
nicht blenden lassen über das erdrückende Uebergewicht der Thatsachen,
die ein Schandfleck der englischen Civilisation sind. Schauderhaft muss
in der That die Lage der Dinge sein, wenn, trotz der augenfälligen Unge-
heuerlichkeit der gegenwärtigen Behausung, kompetente Beobachter ein-
stimmig zu dem Schlussresultat gelangen, dass selbst die allgemeine
Nichtswürdigkeit der Wohnungen noch ein unendlich minder drückendes
Uebel ist als ihr bloss numerischer Mangel. Seit Jahren war die Ueber-
stopfung der Wohnungen der Landarbeiter ein Gegenstand tiefen Kum-
mers nicht nur für Personen, die auf Gesundheit, sondern für alle, die auf
anständiges und moralisches Leben halten. Denn, wieder und wieder, in
Phrasen so gleichförmig, dass sie stereotypirt zu sein scheinen, denunciren
die Berichterstatter über die Verbreitung epidemischer Krankheiten in den
Ruraldistrikten Haus-Ueberfüllung als einen Einfluss, der jeden Versuch,
den Fortschritt einer einmal eingeführten Epidemie aufzuhalten, durchaus
vereitelt. Und wieder und wieder ward nachgewiesen, dass den vielen
gesundheitlichen Einflüssen des Landlebens zum Trotz die Agglomeration,
welche das Umsichgreifen ansteckender Krankheiten so sehr beschleunigt,
auch die Entstehung nicht ansteckender Krankheiten fördert. Und die
Personen, welche diesen Zustand denuncirt haben, verschwiegen weiteres
Unheil nicht. Selbst wo ihr ursprüngliches Thema nur die Gesundheits-
pflege betraf, waren sie beinahe gezwungen auf die andern Seiten des
Gegenstandes einzugehn. Indem sie nachwiesen, wie häufig es sich er-
eignet, dass erwachsne Personen beiderlei Geschlechts, verheirathet und
unverheirathet, zusammengehudelt („huddled“) werden in engen Schlaf-
stuben, mussten ihre Berichte die Ueberzeugung hervorrufen, dass unter
den beschriebenen Umständen Scham- und Anstandsgefühl aufs gröbste
verletzt und alle Moralität fast nothwendig ruinirt wird 167).
167) „Jung verheirathete Paare sind kein erbauliches Studium für erwachsne
Brüder und Schwestern in derselben Schlafstube; und obgleich Beispiele nicht
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Marx, Karl: Das Kapital. Buch I: Der Produktionsprocess des Kapitals. Hamburg, 1867, S. 675. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marx_kapital01_1867/694>, abgerufen am 19.12.2024.
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