Korrespondenten des Morning Star, welcher Anfang Januar 1867 die Hauptsitze des Leidens besuchte. "Im Osten von London, den Distrik- ten von Poplar, Millwall, Greenwich, Deptford, Limehouse und Canning Town befinden sich mindestens 15,000 Arbeiter sammt Familien in einem Zustand äusserster Noth, darunter über 3000 geschickte Mecha- niker. Ihre Reservefonds sind erschöpft in Folge sechs- oder achtmonat- licher Arbeitslosigkeit ... Ich hatte grosse Mühe zum Thor des Work- house (von Poplar) vorzudringen, denn es war belagert von einem ausge- hungerten Haufen. Er wartete auf Brodbillets, aber die Zeit zur Ver- theilung war noch nicht gekommen. Der Hof bildet ein grosses Quadrat mit einem Pultdach, das rings um seine Mauern läuft. Dichte Schnee- haufen bedeckten die Pflastersteine in der Mitte des Hofes. Hier waren gewisse kleine Plätze mit Weidengeflecht abgeschlossen, gleich Schaf- hürden, worin die Männer bei besserem Wetter arbeiten. Am Tage meines Besuchs waren die Hürden so verschneit, dass Niemand in ihnen sitzen konnte. Die Männer waren jedoch unter dem Schutz der Dachvorsprünge mit Macadamisirung von Pflastersteinen beschäftigt. Jeder hatte einen dicken Pflasterstein zum Sitz und klopfte mit schwerem Hammer auf den frostbedeckten Granit, bis er 5 Bushel davon abgehauen hatte. Dann war sein Tagewerk verrichtet und erhielt er 3 d. (1 Silbergroschen, 8 Pfennige) und ein Billet für Brod. In einem andern Theil des Hofes stand ein rhachitisches kleines Holzhaus. Beim Oeffnen der Thüre fanden wir es gefüllt mit Männern, Schulter an Schulter gedrängt, um einander warm zu halten. Sie zupften Schiffstau und stritten mit einander, wer von ihnen mit einem Minimum von Nahrung am längsten arbeiten könne, denn Ausdauer war der point d'honneur. In diesem einen Workhouse allein erhielten 7000 Unterstützung, darunter viele Hunderte, die 6 oder 8 Monate zuvor die höchsten Löhne geschickter Arbeit in diesem Land verdienten. Ihre Zahl wäre doppelt so gross gewesen, gäbe es nicht so viele, welche nach Erschöpfung ihrer ganzen Geldreserve dennoch vor Zuflucht zur Pfarrei zurückbeben, so lange sie noch irgend etwas zu versetzen haben ... Das Workhouse verlassend, machte ich einen Gang durch die Strassen von meist einstöckigen Häusern, die in Poplar so zahlreich. Mein Führer war Mitglied des Comites für die Arbeitslosen. Das erste Haus, worin wir eintraten, war das eines Eisen- arbeiters, seit 27 Wochen ausser Beschäftigung. Ich fand den Mann mit
Korrespondenten des Morning Star, welcher Anfang Januar 1867 die Hauptsitze des Leidens besuchte. „Im Osten von London, den Distrik- ten von Poplar, Millwall, Greenwich, Deptford, Limehouse und Canning Town befinden sich mindestens 15,000 Arbeiter sammt Familien in einem Zustand äusserster Noth, darunter über 3000 geschickte Mecha- niker. Ihre Reservefonds sind erschöpft in Folge sechs- oder achtmonat- licher Arbeitslosigkeit … Ich hatte grosse Mühe zum Thor des Work- house (von Poplar) vorzudringen, denn es war belagert von einem ausge- hungerten Haufen. Er wartete auf Brodbillets, aber die Zeit zur Ver- theilung war noch nicht gekommen. Der Hof bildet ein grosses Quadrat mit einem Pultdach, das rings um seine Mauern läuft. Dichte Schnee- haufen bedeckten die Pflastersteine in der Mitte des Hofes. Hier waren gewisse kleine Plätze mit Weidengeflecht abgeschlossen, gleich Schaf- hürden, worin die Männer bei besserem Wetter arbeiten. Am Tage meines Besuchs waren die Hürden so verschneit, dass Niemand in ihnen sitzen konnte. Die Männer waren jedoch unter dem Schutz der Dachvorsprünge mit Macadamisirung von Pflastersteinen beschäftigt. Jeder hatte einen dicken Pflasterstein zum Sitz und klopfte mit schwerem Hammer auf den frostbedeckten Granit, bis er 5 Bushel davon abgehauen hatte. Dann war sein Tagewerk verrichtet und erhielt er 3 d. (1 Silbergroschen, 8 Pfennige) und ein Billet für Brod. In einem andern Theil des Hofes stand ein rhachitisches kleines Holzhaus. Beim Oeffnen der Thüre fanden wir es gefüllt mit Männern, Schulter an Schulter gedrängt, um einander warm zu halten. Sie zupften Schiffstau und stritten mit einander, wer von ihnen mit einem Minimum von Nahrung am längsten arbeiten könne, denn Ausdauer war der point d’honneur. In diesem einen Workhouse allein erhielten 7000 Unterstützung, darunter viele Hunderte, die 6 oder 8 Monate zuvor die höchsten Löhne geschickter Arbeit in diesem Land verdienten. Ihre Zahl wäre doppelt so gross gewesen, gäbe es nicht so viele, welche nach Erschöpfung ihrer ganzen Geldreserve dennoch vor Zuflucht zur Pfarrei zurückbeben, so lange sie noch irgend etwas zu versetzen haben … Das Workhouse verlassend, machte ich einen Gang durch die Strassen von meist einstöckigen Häusern, die in Poplar so zahlreich. Mein Führer war Mitglied des Comités für die Arbeitslosen. Das erste Haus, worin wir eintraten, war das eines Eisen- arbeiters, seit 27 Wochen ausser Beschäftigung. Ich fand den Mann mit
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Korrespondenten des Morning Star, welcher Anfang Januar 1867
die Hauptsitze des Leidens besuchte. „Im Osten von London, den Distrik-
ten von Poplar, Millwall, Greenwich, Deptford, Limehouse und Canning
Town befinden sich mindestens 15,000 Arbeiter sammt Familien in
einem Zustand äusserster Noth, darunter über 3000 geschickte Mecha-
niker. Ihre Reservefonds sind erschöpft in Folge sechs- oder achtmonat-
licher Arbeitslosigkeit … Ich hatte grosse Mühe zum Thor des Work-
house (von Poplar) vorzudringen, denn es war belagert von einem ausge-
hungerten Haufen. Er wartete auf Brodbillets, aber die Zeit zur Ver-
theilung war noch nicht gekommen. Der Hof bildet ein grosses Quadrat
mit einem Pultdach, das rings um seine Mauern läuft. Dichte Schnee-
haufen bedeckten die Pflastersteine in der Mitte des Hofes. Hier waren
gewisse kleine Plätze mit Weidengeflecht abgeschlossen, gleich Schaf-
hürden, worin die Männer bei besserem Wetter arbeiten. Am Tage meines
Besuchs waren die Hürden so verschneit, dass Niemand in ihnen sitzen
konnte. Die Männer waren jedoch unter dem Schutz der Dachvorsprünge
mit Macadamisirung von Pflastersteinen beschäftigt. Jeder hatte einen
dicken Pflasterstein zum Sitz und klopfte mit schwerem Hammer auf den
frostbedeckten Granit, bis er 5 Bushel davon abgehauen hatte. Dann
war sein Tagewerk verrichtet und erhielt er 3 d. (1 Silbergroschen, 8
Pfennige) und ein Billet für Brod. In einem andern Theil des Hofes
stand ein rhachitisches kleines Holzhaus. Beim Oeffnen der Thüre fanden
wir es gefüllt mit Männern, Schulter an Schulter gedrängt, um einander
warm zu halten. Sie zupften Schiffstau und stritten mit einander, wer
von ihnen mit einem Minimum von Nahrung am längsten arbeiten könne,
denn Ausdauer war der point d’honneur. In diesem einen Workhouse
allein erhielten 7000 Unterstützung, darunter viele Hunderte, die 6
oder 8 Monate zuvor die höchsten Löhne geschickter Arbeit in
diesem Land verdienten. Ihre Zahl wäre doppelt so gross gewesen,
gäbe es nicht so viele, welche nach Erschöpfung ihrer ganzen Geldreserve
dennoch vor Zuflucht zur Pfarrei zurückbeben, so lange sie noch irgend
etwas zu versetzen haben … Das Workhouse verlassend, machte ich
einen Gang durch die Strassen von meist einstöckigen Häusern, die in
Poplar so zahlreich. Mein Führer war Mitglied des Comités für die
Arbeitslosen. Das erste Haus, worin wir eintraten, war das eines Eisen-
arbeiters, seit 27 Wochen ausser Beschäftigung. Ich fand den Mann mit
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Marx, Karl: Das Kapital. Buch I: Der Produktionsprocess des Kapitals. Hamburg, 1867, S. 658. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marx_kapital01_1867/677>, abgerufen am 30.01.2025.
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