Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. 2. Aufl. Hamburg, 1869.

Bild:
<< vorherige Seite

nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie
kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Ver¬
gangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltge¬
schichtlichen Rückerinnerungen, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben.
Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Todten ihre Todten
begraben lassen, um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen. Dort ging die
Phrase über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phrase hinaus.

Die Februarrevolution war eine Ueberrumpelung, eine Ueber¬
raschung
der alten Gesellschaft, und das Volk proklamirte diesen unver¬
hofften Handstreich als eine weltgeschichtliche That, womit die neue Epoche
eröffnet sei. Am 2. Dezember wird die Februarrevolution eskamotirt durch
die Volte eines falschen Spielers, und was umgeworfen scheint, ist nicht
mehr die Monarchie, es sind die liberalen Konzessionen, die ihr durch Jahr¬
hundert lange Kämpfe abgetrotzt waren. Statt daß die Gesellschaft
selbst sich einen neuen Inhalt erobert hätte, scheint nur der Staat zu seiner
ältesten Form zurückgekehrt, zur unverschämt einfachen Herrschaft von Säbel
und von Kutte. So antwortet auf den coup de main vom Februar 1848
der coup de tete vom Dezember 1851. Wie gewonnen, so zerronnen. Un¬
terdessen ist die Zwischenzeit nicht unbenutzt vorübergegangen. Die fran¬
zösische Gesellschaft hat während der Jahre 1848--1851 die Studien und
Erfahrungen nachgeholt, und zwar in einer abkürzenden, weil revolutionären
Methode, die bei regelmäßiger, so zu sagen schulgerechter Entwickelung der
Februarrevolution hätten vorhergehn müssen, sollte sie mehr als eine Er¬
schütterung der Oberfläche sein. Die Gesellschaft scheint jetzt hinter ihren
Ausgangspunkt zurückgetreten; in Wahrheit hat sie sich erst den revolutio¬
nären Ausgangspunkt zu schaffen, die Situation, die Verhältnisse, die Be¬
dingungen, unter denen allein die moderne Revolution ernsthaft wird.

Bürgerliche Revolutionen, wie die des achtzehnten Jahrhunderts, stür¬
men rascher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatischen Effekte überbieten sich,
Menschen und Dinge scheinen in Feuerbrillanten gefaßt, die Extase ist der
Geist jedes Tages; aber sie sind kurzlebig, bald haben sie ihren Höhepunkt
erreicht und ein langer Katzenjammer erfaßt die Gesellschaft, ehe sie die Resul¬
tate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern sich aneignen lernt. Proleta¬
rische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisiren
beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf,
kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von Neuem anzu¬

nicht aus der Vergangenheit ſchöpfen, ſondern nur aus der Zukunft. Sie
kann nicht mit ſich ſelbſt beginnen, bevor ſie allen Aberglauben an die Ver¬
gangenheit abgeſtreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltge¬
ſchichtlichen Rückerinnerungen, um ſich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben.
Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Todten ihre Todten
begraben laſſen, um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen. Dort ging die
Phraſe über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phraſe hinaus.

Die Februarrevolution war eine Ueberrumpelung, eine Ueber¬
raſchung
der alten Geſellſchaft, und das Volk proklamirte dieſen unver¬
hofften Handſtreich als eine weltgeſchichtliche That, womit die neue Epoche
eröffnet ſei. Am 2. Dezember wird die Februarrevolution eskamotirt durch
die Volte eines falſchen Spielers, und was umgeworfen ſcheint, iſt nicht
mehr die Monarchie, es ſind die liberalen Konzeſſionen, die ihr durch Jahr¬
hundert lange Kämpfe abgetrotzt waren. Statt daß die Geſellſchaft
ſelbſt ſich einen neuen Inhalt erobert hätte, ſcheint nur der Staat zu ſeiner
älteſten Form zurückgekehrt, zur unverſchämt einfachen Herrſchaft von Säbel
und von Kutte. So antwortet auf den coup de main vom Februar 1848
der coup de tête vom Dezember 1851. Wie gewonnen, ſo zerronnen. Un¬
terdeſſen iſt die Zwiſchenzeit nicht unbenutzt vorübergegangen. Die fran¬
zöſiſche Geſellſchaft hat während der Jahre 18481851 die Studien und
Erfahrungen nachgeholt, und zwar in einer abkürzenden, weil revolutionären
Methode, die bei regelmäßiger, ſo zu ſagen ſchulgerechter Entwickelung der
Februarrevolution hätten vorhergehn müſſen, ſollte ſie mehr als eine Er¬
ſchütterung der Oberfläche ſein. Die Geſellſchaft ſcheint jetzt hinter ihren
Ausgangspunkt zurückgetreten; in Wahrheit hat ſie ſich erſt den revolutio¬
nären Ausgangspunkt zu ſchaffen, die Situation, die Verhältniſſe, die Be¬
dingungen, unter denen allein die moderne Revolution ernſthaft wird.

Bürgerliche Revolutionen, wie die des achtzehnten Jahrhunderts, ſtür¬
men raſcher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatiſchen Effekte überbieten ſich,
Menſchen und Dinge ſcheinen in Feuerbrillanten gefaßt, die Extaſe iſt der
Geiſt jedes Tages; aber ſie ſind kurzlebig, bald haben ſie ihren Höhepunkt
erreicht und ein langer Katzenjammer erfaßt die Geſellſchaft, ehe ſie die Reſul¬
tate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern ſich aneignen lernt. Proleta¬
riſche Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritiſiren
beſtändig ſich ſelbſt, unterbrechen ſich fortwährend in ihrem eignen Lauf,
kommen auf das ſcheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von Neuem anzu¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0016" n="4"/>
nicht aus der Vergangenheit &#x017F;chöpfen, &#x017F;ondern nur aus der Zukunft. Sie<lb/>
kann nicht mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t beginnen, bevor &#x017F;ie allen Aberglauben an die Ver¬<lb/>
gangenheit abge&#x017F;treift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltge¬<lb/>
&#x017F;chichtlichen Rückerinnerungen, um &#x017F;ich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben.<lb/>
Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Todten ihre Todten<lb/>
begraben la&#x017F;&#x017F;en, um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen. Dort ging die<lb/>
Phra&#x017F;e über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phra&#x017F;e hinaus.</p><lb/>
          <p>Die Februarrevolution war eine Ueberrumpelung, eine <hi rendition="#g">Ueber¬<lb/>
ra&#x017F;chung</hi> der alten Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft, und das Volk proklamirte die&#x017F;en unver¬<lb/>
hofften <hi rendition="#g">Hand&#x017F;treich</hi> als eine weltge&#x017F;chichtliche That, womit die neue Epoche<lb/>
eröffnet &#x017F;ei. Am <hi rendition="#aq">2</hi>. Dezember wird die Februarrevolution eskamotirt durch<lb/>
die Volte eines fal&#x017F;chen Spielers, und was umgeworfen &#x017F;cheint, i&#x017F;t nicht<lb/>
mehr die Monarchie, es &#x017F;ind die liberalen Konze&#x017F;&#x017F;ionen, die ihr durch Jahr¬<lb/>
hundert lange Kämpfe abgetrotzt waren. Statt daß die <hi rendition="#g">Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft</hi><lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ich einen neuen Inhalt erobert hätte, &#x017F;cheint nur der <hi rendition="#g">Staat</hi> zu &#x017F;einer<lb/>
älte&#x017F;ten Form zurückgekehrt, zur unver&#x017F;chämt einfachen Herr&#x017F;chaft von Säbel<lb/>
und von Kutte. So antwortet auf den <hi rendition="#aq">coup de main</hi> vom Februar 1848<lb/>
der <hi rendition="#aq">coup de tête</hi> vom Dezember <hi rendition="#aq">1851</hi>. Wie gewonnen, &#x017F;o zerronnen. Un¬<lb/>
terde&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t die Zwi&#x017F;chenzeit nicht unbenutzt vorübergegangen. Die fran¬<lb/>&#x017F;i&#x017F;che Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft hat während der Jahre <hi rendition="#aq">1848</hi>&#x2014;<hi rendition="#aq">1851</hi> die Studien und<lb/>
Erfahrungen nachgeholt, und zwar in einer abkürzenden, weil revolutionären<lb/>
Methode, die bei regelmäßiger, &#x017F;o zu &#x017F;agen &#x017F;chulgerechter Entwickelung der<lb/>
Februarrevolution hätten vorhergehn mü&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;ollte &#x017F;ie mehr als eine Er¬<lb/>
&#x017F;chütterung der Oberfläche &#x017F;ein. Die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft &#x017F;cheint jetzt hinter ihren<lb/>
Ausgangspunkt zurückgetreten; in Wahrheit hat &#x017F;ie &#x017F;ich er&#x017F;t den revolutio¬<lb/>
nären Ausgangspunkt zu &#x017F;chaffen, die Situation, die Verhältni&#x017F;&#x017F;e, die Be¬<lb/>
dingungen, unter denen allein die moderne Revolution ern&#x017F;thaft wird.</p><lb/>
          <p>Bürgerliche Revolutionen, wie die des achtzehnten Jahrhunderts, &#x017F;tür¬<lb/>
men ra&#x017F;cher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramati&#x017F;chen Effekte überbieten &#x017F;ich,<lb/>
Men&#x017F;chen und Dinge &#x017F;cheinen in Feuerbrillanten gefaßt, die Exta&#x017F;e i&#x017F;t der<lb/>
Gei&#x017F;t jedes Tages; aber &#x017F;ie &#x017F;ind kurzlebig, bald haben &#x017F;ie ihren Höhepunkt<lb/>
erreicht und ein langer Katzenjammer erfaßt die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft, ehe &#x017F;ie die Re&#x017F;ul¬<lb/>
tate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern &#x017F;ich aneignen lernt. Proleta¬<lb/>
ri&#x017F;che Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kriti&#x017F;iren<lb/>
be&#x017F;tändig &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, unterbrechen &#x017F;ich fortwährend in ihrem eignen Lauf,<lb/>
kommen auf das &#x017F;cheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von Neuem anzu¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[4/0016] nicht aus der Vergangenheit ſchöpfen, ſondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit ſich ſelbſt beginnen, bevor ſie allen Aberglauben an die Ver¬ gangenheit abgeſtreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltge¬ ſchichtlichen Rückerinnerungen, um ſich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Todten ihre Todten begraben laſſen, um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen. Dort ging die Phraſe über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phraſe hinaus. Die Februarrevolution war eine Ueberrumpelung, eine Ueber¬ raſchung der alten Geſellſchaft, und das Volk proklamirte dieſen unver¬ hofften Handſtreich als eine weltgeſchichtliche That, womit die neue Epoche eröffnet ſei. Am 2. Dezember wird die Februarrevolution eskamotirt durch die Volte eines falſchen Spielers, und was umgeworfen ſcheint, iſt nicht mehr die Monarchie, es ſind die liberalen Konzeſſionen, die ihr durch Jahr¬ hundert lange Kämpfe abgetrotzt waren. Statt daß die Geſellſchaft ſelbſt ſich einen neuen Inhalt erobert hätte, ſcheint nur der Staat zu ſeiner älteſten Form zurückgekehrt, zur unverſchämt einfachen Herrſchaft von Säbel und von Kutte. So antwortet auf den coup de main vom Februar 1848 der coup de tête vom Dezember 1851. Wie gewonnen, ſo zerronnen. Un¬ terdeſſen iſt die Zwiſchenzeit nicht unbenutzt vorübergegangen. Die fran¬ zöſiſche Geſellſchaft hat während der Jahre 1848—1851 die Studien und Erfahrungen nachgeholt, und zwar in einer abkürzenden, weil revolutionären Methode, die bei regelmäßiger, ſo zu ſagen ſchulgerechter Entwickelung der Februarrevolution hätten vorhergehn müſſen, ſollte ſie mehr als eine Er¬ ſchütterung der Oberfläche ſein. Die Geſellſchaft ſcheint jetzt hinter ihren Ausgangspunkt zurückgetreten; in Wahrheit hat ſie ſich erſt den revolutio¬ nären Ausgangspunkt zu ſchaffen, die Situation, die Verhältniſſe, die Be¬ dingungen, unter denen allein die moderne Revolution ernſthaft wird. Bürgerliche Revolutionen, wie die des achtzehnten Jahrhunderts, ſtür¬ men raſcher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatiſchen Effekte überbieten ſich, Menſchen und Dinge ſcheinen in Feuerbrillanten gefaßt, die Extaſe iſt der Geiſt jedes Tages; aber ſie ſind kurzlebig, bald haben ſie ihren Höhepunkt erreicht und ein langer Katzenjammer erfaßt die Geſellſchaft, ehe ſie die Reſul¬ tate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern ſich aneignen lernt. Proleta¬ riſche Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritiſiren beſtändig ſich ſelbſt, unterbrechen ſich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das ſcheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von Neuem anzu¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Diese zweite, von Marx überarbeitete Fassung des … [mehr]

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/marx_bonaparte_1869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/marx_bonaparte_1869/16
Zitationshilfe: Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. 2. Aufl. Hamburg, 1869, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marx_bonaparte_1869/16>, abgerufen am 27.11.2024.