Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Martens, Georg Friedrich von: Einleitung in das positive Europäische Völkerrecht auf Verträge und Herkommen gegründet. Göttingen, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweytes Buch. Viertes Hauptstück.
schweigen erwächst, bringt uns noch nicht um unsere Rechte.
Die Verjährung hat daher nach dem absoluten natürlichen
Völkerrecht nicht statt. Und wenn gleich das Beste der
Völker wünschen läßt, daß die Verjährung anerkannt werde,
und sie daher, für erweißlich in Gesellschaft lebende Völker,
zu dem natürlichen Gesellschaftrecht derselben gezählet wer-
den könnte b), so ist doch in der Wahrheit nichts gewon-
nen, so lange man nicht die Zeit bestimmen kann welche
zum Verlust, oder zur Erwerbung der Rechte durch Ver-
jährung erfordert wird, und daß das natürliche Völkerrecht
diese nicht genau bestimmen könne c), ist in die Augen
fallend.

Zwar hat jeder Besitzer einer Sache so lange ein
Recht seinen Besitz fortzusetzen, bis ein anderer ein besseres
Recht auf diese Sache dargethan hat; wenn man sich daher
einen so unvordenklichen Besitz gedenkt, daß nicht darge-
than werden kann, daß je ein anderer als der jetzige Be-
sitzer oder dessen Vorfahren die Sache besessen, so ist es
Folge von diesen Umständen, daß er einen jeden mit seinen
Ansprüchen abweisen kann. Aber sehr uneigentlich wird
dieser favor possessionis unvordenkliche Verjährung ge-
nannt d).

a) Grotius L. II. c. 4. Puffendorf de iure nat. et Gent. L. IV. c. 12.
Vattel L. II. cap. XI. Cuiacius ad l. 1. D. de usucapione.
Fe-
der
Recht der Natur
Th. I. Cap. II. Sect. 1. §. 22. Cap. III.
§. 79. Günther Th. II. S. 117.
b) Grotius l. c. §. 9. Wolf ius gent. §. 366.
c) Selbst der unvordenkliche Besitz, sofern hierunter nur ein solcher
verstanden wird, von dessen Anfang keiner der jetzt lebenden
Menschen Wissenschaft hat, ist keine natürliche Zeitbestimmung
zur Verjährung.
d) I. G. Walther diss. de praescriptione inter liberas gentes ad Hug.
Grotii I. B. et P.
L. II. c. 4. §. 1--9. Witeb.
1751. §. 17.
Günther Völkerrecht Th. II. S. 131. u. f.

§. 64.

Zweytes Buch. Viertes Hauptſtuͤck.
ſchweigen erwaͤchſt, bringt uns noch nicht um unſere Rechte.
Die Verjaͤhrung hat daher nach dem abſoluten natuͤrlichen
Voͤlkerrecht nicht ſtatt. Und wenn gleich das Beſte der
Voͤlker wuͤnſchen laͤßt, daß die Verjaͤhrung anerkannt werde,
und ſie daher, fuͤr erweißlich in Geſellſchaft lebende Voͤlker,
zu dem natuͤrlichen Geſellſchaftrecht derſelben gezaͤhlet wer-
den koͤnnte b), ſo iſt doch in der Wahrheit nichts gewon-
nen, ſo lange man nicht die Zeit beſtimmen kann welche
zum Verluſt, oder zur Erwerbung der Rechte durch Ver-
jaͤhrung erfordert wird, und daß das natuͤrliche Voͤlkerrecht
dieſe nicht genau beſtimmen koͤnne c), iſt in die Augen
fallend.

Zwar hat jeder Beſitzer einer Sache ſo lange ein
Recht ſeinen Beſitz fortzuſetzen, bis ein anderer ein beſſeres
Recht auf dieſe Sache dargethan hat; wenn man ſich daher
einen ſo unvordenklichen Beſitz gedenkt, daß nicht darge-
than werden kann, daß je ein anderer als der jetzige Be-
ſitzer oder deſſen Vorfahren die Sache beſeſſen, ſo iſt es
Folge von dieſen Umſtaͤnden, daß er einen jeden mit ſeinen
Anſpruͤchen abweiſen kann. Aber ſehr uneigentlich wird
dieſer favor poſſeſſionis unvordenkliche Verjaͤhrung ge-
nannt d).

a) Grotius L. II. c. 4. Puffendorf de iure nat. et Gent. L. IV. c. 12.
Vattel L. II. cap. XI. Cuiacius ad l. 1. D. de uſucapione.
Fe-
der
Recht der Natur
Th. I. Cap. II. Sect. 1. §. 22. Cap. III.
§. 79. Guͤnther Th. II. S. 117.
b) Grotius l. c. §. 9. Wolf ius gent. §. 366.
c) Selbſt der unvordenkliche Beſitz, ſofern hierunter nur ein ſolcher
verſtanden wird, von deſſen Anfang keiner der jetzt lebenden
Menſchen Wiſſenſchaft hat, iſt keine natuͤrliche Zeitbeſtimmung
zur Verjaͤhrung.
d) I. G. Walther diſſ. de praeſcriptione inter liberas gentes ad Hug.
Grotii I. B. et P.
L. II. c. 4. §. 1—9. Witeb.
1751. §. 17.
Guͤnther Voͤlkerrecht Th. II. S. 131. u. f.

§. 64.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0104" n="76"/><fw place="top" type="header">Zweytes Buch. Viertes Haupt&#x017F;tu&#x0364;ck.</fw><lb/>
&#x017F;chweigen erwa&#x0364;ch&#x017F;t, bringt uns noch nicht um un&#x017F;ere Rechte.<lb/>
Die Verja&#x0364;hrung hat daher nach dem ab&#x017F;oluten natu&#x0364;rlichen<lb/>
Vo&#x0364;lkerrecht nicht &#x017F;tatt. Und wenn gleich das Be&#x017F;te der<lb/>
Vo&#x0364;lker wu&#x0364;n&#x017F;chen la&#x0364;ßt, daß die Verja&#x0364;hrung anerkannt werde,<lb/>
und &#x017F;ie daher, fu&#x0364;r erweißlich in Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft lebende Vo&#x0364;lker,<lb/>
zu dem natu&#x0364;rlichen Ge&#x017F;ell&#x017F;chaftrecht der&#x017F;elben geza&#x0364;hlet wer-<lb/>
den ko&#x0364;nnte <hi rendition="#i"><hi rendition="#aq">b</hi></hi>), &#x017F;o i&#x017F;t doch in der Wahrheit nichts gewon-<lb/>
nen, &#x017F;o lange man nicht die Zeit be&#x017F;timmen kann welche<lb/>
zum Verlu&#x017F;t, oder zur Erwerbung der Rechte durch Ver-<lb/>
ja&#x0364;hrung erfordert wird, und daß das natu&#x0364;rliche Vo&#x0364;lkerrecht<lb/>
die&#x017F;e nicht genau be&#x017F;timmen ko&#x0364;nne <hi rendition="#i"><hi rendition="#aq">c</hi></hi>), i&#x017F;t in die Augen<lb/>
fallend.</p><lb/>
            <p>Zwar hat jeder Be&#x017F;itzer einer Sache &#x017F;o lange ein<lb/>
Recht &#x017F;einen Be&#x017F;itz fortzu&#x017F;etzen, bis ein anderer ein be&#x017F;&#x017F;eres<lb/>
Recht auf die&#x017F;e Sache dargethan hat; wenn man &#x017F;ich daher<lb/>
einen &#x017F;o unvordenklichen Be&#x017F;itz gedenkt, daß nicht darge-<lb/>
than werden kann, daß je ein anderer als der jetzige Be-<lb/>
&#x017F;itzer oder de&#x017F;&#x017F;en Vorfahren die Sache be&#x017F;e&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;o i&#x017F;t es<lb/>
Folge von die&#x017F;en Um&#x017F;ta&#x0364;nden, daß er einen jeden mit &#x017F;einen<lb/>
An&#x017F;pru&#x0364;chen abwei&#x017F;en kann. Aber &#x017F;ehr uneigentlich wird<lb/>
die&#x017F;er <hi rendition="#aq">favor po&#x017F;&#x017F;e&#x017F;&#x017F;ionis</hi> unvordenkliche Verja&#x0364;hrung ge-<lb/>
nannt <hi rendition="#i"><hi rendition="#aq">d</hi></hi>).</p><lb/>
            <note place="end" n="a)"><hi rendition="#aq"><hi rendition="#k">Grotius</hi> L. II. c. 4. <hi rendition="#k">Puffendorf</hi> <hi rendition="#i">de iure nat. et Gent.</hi> L. IV. c. 12.<lb/><hi rendition="#k">Vattel</hi> L. II. cap. XI. <hi rendition="#k">Cuiacius</hi> ad l. 1. D. <hi rendition="#i">de u&#x017F;ucapione</hi>.</hi><hi rendition="#fr"><hi rendition="#g">Fe-<lb/>
der</hi> Recht der Natur</hi> Th. <hi rendition="#aq">I.</hi> Cap. <hi rendition="#aq">II.</hi> Sect. 1. §. 22. Cap. <hi rendition="#aq">III.</hi><lb/>
§. 79. <hi rendition="#fr"><hi rendition="#g">Gu&#x0364;nther</hi></hi> Th. <hi rendition="#aq">II.</hi> S. 117.</note><lb/>
            <note place="end" n="b)"><hi rendition="#aq"><hi rendition="#k">Grotius</hi> l. c. §. 9. <hi rendition="#k">Wolf</hi> <hi rendition="#i">ius gent</hi>.</hi> §. 366.</note><lb/>
            <note place="end" n="c)">Selb&#x017F;t der unvordenkliche Be&#x017F;itz, &#x017F;ofern hierunter nur ein &#x017F;olcher<lb/>
ver&#x017F;tanden wird, von de&#x017F;&#x017F;en Anfang keiner der jetzt lebenden<lb/>
Men&#x017F;chen Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft hat, i&#x017F;t keine natu&#x0364;rliche Zeitbe&#x017F;timmung<lb/>
zur Verja&#x0364;hrung.</note><lb/>
            <note place="end" n="d)"><hi rendition="#aq">I. G. <hi rendition="#k">Walther</hi> di&#x017F;&#x017F;. <hi rendition="#i">de prae&#x017F;criptione inter liberas gentes ad Hug.<lb/>
Grotii I. B. et P.</hi> L. II. c. 4. §. 1&#x2014;9. Witeb.</hi> 1751. §. 17.<lb/><hi rendition="#fr"><hi rendition="#g">Gu&#x0364;nther</hi> Vo&#x0364;lkerrecht</hi> Th. <hi rendition="#aq">II.</hi> S. 131. u. f.</note>
          </div><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">§. 64.</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[76/0104] Zweytes Buch. Viertes Hauptſtuͤck. ſchweigen erwaͤchſt, bringt uns noch nicht um unſere Rechte. Die Verjaͤhrung hat daher nach dem abſoluten natuͤrlichen Voͤlkerrecht nicht ſtatt. Und wenn gleich das Beſte der Voͤlker wuͤnſchen laͤßt, daß die Verjaͤhrung anerkannt werde, und ſie daher, fuͤr erweißlich in Geſellſchaft lebende Voͤlker, zu dem natuͤrlichen Geſellſchaftrecht derſelben gezaͤhlet wer- den koͤnnte b), ſo iſt doch in der Wahrheit nichts gewon- nen, ſo lange man nicht die Zeit beſtimmen kann welche zum Verluſt, oder zur Erwerbung der Rechte durch Ver- jaͤhrung erfordert wird, und daß das natuͤrliche Voͤlkerrecht dieſe nicht genau beſtimmen koͤnne c), iſt in die Augen fallend. Zwar hat jeder Beſitzer einer Sache ſo lange ein Recht ſeinen Beſitz fortzuſetzen, bis ein anderer ein beſſeres Recht auf dieſe Sache dargethan hat; wenn man ſich daher einen ſo unvordenklichen Beſitz gedenkt, daß nicht darge- than werden kann, daß je ein anderer als der jetzige Be- ſitzer oder deſſen Vorfahren die Sache beſeſſen, ſo iſt es Folge von dieſen Umſtaͤnden, daß er einen jeden mit ſeinen Anſpruͤchen abweiſen kann. Aber ſehr uneigentlich wird dieſer favor poſſeſſionis unvordenkliche Verjaͤhrung ge- nannt d). a⁾ Grotius L. II. c. 4. Puffendorf de iure nat. et Gent. L. IV. c. 12. Vattel L. II. cap. XI. Cuiacius ad l. 1. D. de uſucapione. Fe- der Recht der Natur Th. I. Cap. II. Sect. 1. §. 22. Cap. III. §. 79. Guͤnther Th. II. S. 117. b⁾ Grotius l. c. §. 9. Wolf ius gent. §. 366. c⁾ Selbſt der unvordenkliche Beſitz, ſofern hierunter nur ein ſolcher verſtanden wird, von deſſen Anfang keiner der jetzt lebenden Menſchen Wiſſenſchaft hat, iſt keine natuͤrliche Zeitbeſtimmung zur Verjaͤhrung. d⁾ I. G. Walther diſſ. de praeſcriptione inter liberas gentes ad Hug. Grotii I. B. et P. L. II. c. 4. §. 1—9. Witeb. 1751. §. 17. Guͤnther Voͤlkerrecht Th. II. S. 131. u. f. §. 64.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/martens_voelkerrecht_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/martens_voelkerrecht_1796/104
Zitationshilfe: Martens, Georg Friedrich von: Einleitung in das positive Europäische Völkerrecht auf Verträge und Herkommen gegründet. Göttingen, 1796, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martens_voelkerrecht_1796/104>, abgerufen am 03.12.2024.