Fünfter Abschnitt. Beweis, daß der kirnbergersche Grundbaß kein reiner Grundbaß, sondern ein Jnter- polirbaß ist.
§. 302.
Es ist eine harmonische Freiheit der Neuern, daß sie im ga- lanten Styl, besonders im Recitativ, nicht allein bey liegendem Baße, Fig. 62., sondern auch bey chromatisch fortgehendem Baße, Fig. 63. und 64. die Auflösung gewis- ser Dissonanzen zuweilen übergehen. Wenn man die Accorde dieser Exempel in Absicht auf den Grundbaß untersuchet, so findet man, daß der bey (a) ein Septimenaccord g h d f und also sein eigner Grundaccord ist; 2) daß, wenn man bey (b) den Baßton g aufhebet, ein Terzquartenaccord a c d fis zurücke bleibt, dessen Grundaccord der Septimensatz d fis a c ist, und daß der zusammengesetzte Accord g a c d fis folglich den Septimensatz d fis a c zum Grundaccorde hat; 3) daß der Ac- cord bey (c) ein harmonischer Dreyklang g h d und also ein Grundaccord ist; 4) daß der Seeundenaccord f d g h bey (d) vermittelst der Umkehrung von dem Septimensatz g h d f; und der Quintsextenaccord bey (e) vermittelst der Umkehrung von dem Septimensatz d fis a c entspringet; und 4) daß endlich der verminderte Septimensatz fis es ac bey (f) sein eigener Grundac- cord ist. -- Es findet sich aber, daß die Fortschreitung von dem Septimenaccord g h d f zu dem Septimenaccord d fis a c unhar- monisch ist, weil die Septime f von g nicht zuvor aufgelöset worden. Um also die Fortschreitung von einem Accord zum andern möglich zu machen, lässet der Hr. Kirnberger den Septi- mensatz g h d f zuvor resolviren. Wenn nun diese Resolution auf mehrerley Art geschehen kann, so entstehen so vielerley Ar- ten von Grundbässen, als vielmal diese Resolution möglich ist. Man sehe zur Probe die zweyerley Arten bey Fig. 65. Der erste dieser Grundbässe ist in den Grundsätzen etc. Seite 39, und der andere in der Theorie etc. Seite 1069 im Artikel von
der
Anhang ꝛc. Fuͤnfter Abſchnitt. Beweis,
Fuͤnfter Abſchnitt. Beweis, daß der kirnbergerſche Grundbaß kein reiner Grundbaß, ſondern ein Jnter- polirbaß iſt.
§. 302.
Es iſt eine harmoniſche Freiheit der Neuern, daß ſie im ga- lanten Styl, beſonders im Recitativ, nicht allein bey liegendem Baße, Fig. 62., ſondern auch bey chromatiſch fortgehendem Baße, Fig. 63. und 64. die Aufloͤſung gewiſ- ſer Diſſonanzen zuweilen uͤbergehen. Wenn man die Accorde dieſer Exempel in Abſicht auf den Grundbaß unterſuchet, ſo findet man, daß der bey (a) ein Septimenaccord g h d f und alſo ſein eigner Grundaccord iſt; 2) daß, wenn man bey (b) den Baßton g aufhebet, ein Terzquartenaccord a c d fis zuruͤcke bleibt, deſſen Grundaccord der Septimenſatz d fis a c iſt, und daß der zuſammengeſetzte Accord g a c d fis folglich den Septimenſatz d fis a c zum Grundaccorde hat; 3) daß der Ac- cord bey (c) ein harmoniſcher Dreyklang g h d und alſo ein Grundaccord iſt; 4) daß der Seeundenaccord f d g h bey (d) vermittelſt der Umkehrung von dem Septimenſatz g h d f; und der Quintſextenaccord bey (e) vermittelſt der Umkehrung von dem Septimenſatz d fis a c entſpringet; und 4) daß endlich der verminderte Septimenſatz fis es ac bey (f) ſein eigener Grundac- cord iſt. — Es findet ſich aber, daß die Fortſchreitung von dem Septimenaccord g h d f zu dem Septimenaccord d fis a c unhar- moniſch iſt, weil die Septime f von g nicht zuvor aufgeloͤſet worden. Um alſo die Fortſchreitung von einem Accord zum andern moͤglich zu machen, laͤſſet der Hr. Kirnberger den Septi- menſatz g h d f zuvor reſolviren. Wenn nun dieſe Reſolution auf mehrerley Art geſchehen kann, ſo entſtehen ſo vielerley Ar- ten von Grundbaͤſſen, als vielmal dieſe Reſolution moͤglich iſt. Man ſehe zur Probe die zweyerley Arten bey Fig. 65. Der erſte dieſer Grundbaͤſſe iſt in den Grundſaͤtzen ꝛc. Seite 39, und der andere in der Theorie ꝛc. Seite 1069 im Artikel von
der
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0296"n="276"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Anhang ꝛc. Fuͤnfter Abſchnitt. Beweis,</hi></fw><lb/><divn="3"><head><hirendition="#b"><hirendition="#g">Fuͤnfter Abſchnitt.</hi></hi><lb/>
Beweis, daß der kirnbergerſche Grundbaß<lb/>
kein reiner Grundbaß, ſondern ein Jnter-<lb/>
polirbaß iſt.</head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="4"><head>§. 302.</head><lb/><p><hirendition="#in">E</hi>s iſt eine harmoniſche Freiheit der Neuern, daß ſie im ga-<lb/>
lanten Styl, beſonders im Recitativ, nicht allein <hirendition="#fr">bey<lb/>
liegendem</hi> Baße, Fig. 62., ſondern auch bey chromatiſch<lb/>
fortgehendem Baße, Fig. 63. und 64. die Aufloͤſung gewiſ-<lb/>ſer Diſſonanzen zuweilen uͤbergehen. Wenn man die Accorde<lb/>
dieſer Exempel in Abſicht auf den Grundbaß unterſuchet, ſo<lb/>
findet man, daß der bey (<hirendition="#aq"><hirendition="#i">a</hi></hi>) ein Septimenaccord <hirendition="#aq">g h d f</hi> und<lb/>
alſo ſein eigner Grundaccord iſt; 2) daß, wenn man bey<lb/>
(<hirendition="#aq"><hirendition="#i">b</hi></hi>) den Baßton <hirendition="#aq">g</hi> aufhebet, ein Terzquartenaccord <hirendition="#aq">a c d fis</hi><lb/>
zuruͤcke bleibt, deſſen Grundaccord der Septimenſatz <hirendition="#aq">d fis a c</hi><lb/>
iſt, und daß der zuſammengeſetzte Accord <hirendition="#aq">g a c d fis</hi> folglich den<lb/>
Septimenſatz <hirendition="#aq">d fis a c</hi> zum Grundaccorde hat; 3) daß der Ac-<lb/>
cord bey (<hirendition="#aq"><hirendition="#i">c</hi></hi>) ein harmoniſcher Dreyklang <hirendition="#aq">g h d</hi> und alſo ein<lb/>
Grundaccord iſt; 4) daß der Seeundenaccord <hirendition="#aq">f d g h</hi> bey (<hirendition="#aq"><hirendition="#i">d</hi></hi>)<lb/>
vermittelſt der Umkehrung von dem Septimenſatz <hirendition="#aq">g h d f;</hi> und<lb/>
der Quintſextenaccord bey (<hirendition="#aq"><hirendition="#i">e</hi></hi>) vermittelſt der Umkehrung von<lb/>
dem Septimenſatz <hirendition="#aq">d fis a c</hi> entſpringet; und 4) daß endlich der<lb/>
verminderte Septimenſatz <hirendition="#aq">fis es ac</hi> bey (<hirendition="#aq"><hirendition="#i">f</hi></hi>) ſein eigener Grundac-<lb/>
cord iſt. — Es findet ſich aber, daß die Fortſchreitung von dem<lb/>
Septimenaccord <hirendition="#aq">g h d f</hi> zu dem Septimenaccord <hirendition="#aq">d fis a c</hi> unhar-<lb/>
moniſch iſt, weil die Septime <hirendition="#aq">f</hi> von <hirendition="#aq">g</hi> nicht zuvor aufgeloͤſet<lb/>
worden. Um alſo die Fortſchreitung von einem Accord zum<lb/>
andern moͤglich zu machen, laͤſſet der Hr. Kirnberger den Septi-<lb/>
menſatz <hirendition="#aq">g h d f</hi> zuvor reſolviren. Wenn nun dieſe Reſolution<lb/>
auf mehrerley Art geſchehen kann, ſo entſtehen ſo vielerley Ar-<lb/>
ten von Grundbaͤſſen, als vielmal dieſe Reſolution moͤglich iſt.<lb/>
Man ſehe zur Probe die zweyerley Arten bey Fig. 65. Der<lb/>
erſte dieſer Grundbaͤſſe iſt in den <hirendition="#fr">Grundſaͤtzen</hi>ꝛc. Seite 39,<lb/>
und der andere in der <hirendition="#fr">Theorie</hi>ꝛc. Seite 1069 im Artikel von<lb/><fwplace="bottom"type="catch">der</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[276/0296]
Anhang ꝛc. Fuͤnfter Abſchnitt. Beweis,
Fuͤnfter Abſchnitt.
Beweis, daß der kirnbergerſche Grundbaß
kein reiner Grundbaß, ſondern ein Jnter-
polirbaß iſt.
§. 302.
Es iſt eine harmoniſche Freiheit der Neuern, daß ſie im ga-
lanten Styl, beſonders im Recitativ, nicht allein bey
liegendem Baße, Fig. 62., ſondern auch bey chromatiſch
fortgehendem Baße, Fig. 63. und 64. die Aufloͤſung gewiſ-
ſer Diſſonanzen zuweilen uͤbergehen. Wenn man die Accorde
dieſer Exempel in Abſicht auf den Grundbaß unterſuchet, ſo
findet man, daß der bey (a) ein Septimenaccord g h d f und
alſo ſein eigner Grundaccord iſt; 2) daß, wenn man bey
(b) den Baßton g aufhebet, ein Terzquartenaccord a c d fis
zuruͤcke bleibt, deſſen Grundaccord der Septimenſatz d fis a c
iſt, und daß der zuſammengeſetzte Accord g a c d fis folglich den
Septimenſatz d fis a c zum Grundaccorde hat; 3) daß der Ac-
cord bey (c) ein harmoniſcher Dreyklang g h d und alſo ein
Grundaccord iſt; 4) daß der Seeundenaccord f d g h bey (d)
vermittelſt der Umkehrung von dem Septimenſatz g h d f; und
der Quintſextenaccord bey (e) vermittelſt der Umkehrung von
dem Septimenſatz d fis a c entſpringet; und 4) daß endlich der
verminderte Septimenſatz fis es ac bey (f) ſein eigener Grundac-
cord iſt. — Es findet ſich aber, daß die Fortſchreitung von dem
Septimenaccord g h d f zu dem Septimenaccord d fis a c unhar-
moniſch iſt, weil die Septime f von g nicht zuvor aufgeloͤſet
worden. Um alſo die Fortſchreitung von einem Accord zum
andern moͤglich zu machen, laͤſſet der Hr. Kirnberger den Septi-
menſatz g h d f zuvor reſolviren. Wenn nun dieſe Reſolution
auf mehrerley Art geſchehen kann, ſo entſtehen ſo vielerley Ar-
ten von Grundbaͤſſen, als vielmal dieſe Reſolution moͤglich iſt.
Man ſehe zur Probe die zweyerley Arten bey Fig. 65. Der
erſte dieſer Grundbaͤſſe iſt in den Grundſaͤtzen ꝛc. Seite 39,
und der andere in der Theorie ꝛc. Seite 1069 im Artikel von
der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/296>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.