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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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des Artikels vom Fundamentalbaß in der Sulz. etc.
der Jntervalle, erbauet, der doppelte Contrapunkt in der
Octave aber weit älter als das System des Hrn. Rameau vom
Grundbaß ist. -- Es ist nichts gewisser, als daß der dop-
pelte Contrapunkt in der Octave wenigstens dreyhundert Jahr
älter, als das System des Hrn. Rameau ist, indem lezteres
erst im Jahre 1722 bekannt geworden. Aber es entstehn die
zwey Fragen, 1) ob der doppelte Contrapunkt in der Octave
und der Grundbaß einerley Dinge sind; und 2) ob irgend ein
Musiker vor den Zeiten des Hrn. Rameau die Lehre vom dop-
pelten Contrapunkt dazu angewendet hat, um die Aecorde der
Musik in einen Zusammenhang zu bringen?

§. 292.

Sollte es wahr seyn, daß der doppelte Contrapunkt in der
Octave und der Grundbaß einerley Dinge wären, was würde
daraus folgen? Dieses, daß alle nur mögliche Arten musika-
lischer Tonstücke, Recitative und Arien, Gassenhauer und Al-
lemanden, von der ersten bis zur lezten Tactnote, lauter dop-
pelte Contrapuncte wären. Denn alle diese Compositionen
können in einen Grundbaß aufgelöset werden. Es würde aber
noch mehrers folgen, nemlich, daß, da in der Theorie, im Arti-
kel Contrapunkt, so viel Gutes vom doppelten Contrapunkt,
und hingegen in den Schriften des Hrn. Kirnberger vom
Rameauschen Grundbaß so viel Böses gesaget wird, der eine
oder andere Auctor sich sehr stark geirret haben müße. Es
muß also wohl zwischen dem doppelten Contrapunkt in der
Octave, und dem Grundbaß ein Unterscheid, und der Umkehrung
der Jntervalle ungeachtet, deren Kenntniß sowohl bey dem einen
als andern erfordert wird, das eine nicht mit dem andern zu
vermischen seyn. Bey so bewandten Umständen könnte denn
wohl behauptet werden, daß der Hr. Rameau den Grundbaß
erfunden habe. Man saget ja nicht, daß er den doppelten

Contra-
gedacht zu haben, weil er vom doppelten Contrapunet unbestimmt
spricht, und die Art desselben nicht anzeiget, welches sonsten nicht
Mode ist. Es hat zwar seine Richtigkeit, daß man in den übrigen
Arten derselben ebenfalls nicht einen einzigen Tact setzen kann, ohne
daß die Accorde bey der Umkehrung der Stimmen verändert werden.
Aber es hat mit dieser Veränderung eine ganz andere Bewandtniß,
als mit der im doppelten Contrapunet ad Octavam, und es kann also
kein anderer als der lezte bey gegenwärtiger Frage in Betracht kommen.

des Artikels vom Fundamentalbaß in der Sulz. ꝛc.
der Jntervalle, erbauet, der doppelte Contrapunkt in der
Octave aber weit aͤlter als das Syſtem des Hrn. Rameau vom
Grundbaß iſt. — Es iſt nichts gewiſſer, als daß der dop-
pelte Contrapunkt in der Octave wenigſtens dreyhundert Jahr
aͤlter, als das Syſtem des Hrn. Rameau iſt, indem lezteres
erſt im Jahre 1722 bekannt geworden. Aber es entſtehn die
zwey Fragen, 1) ob der doppelte Contrapunkt in der Octave
und der Grundbaß einerley Dinge ſind; und 2) ob irgend ein
Muſiker vor den Zeiten des Hrn. Rameau die Lehre vom dop-
pelten Contrapunkt dazu angewendet hat, um die Aecorde der
Muſik in einen Zuſammenhang zu bringen?

§. 292.

Sollte es wahr ſeyn, daß der doppelte Contrapunkt in der
Octave und der Grundbaß einerley Dinge waͤren, was wuͤrde
daraus folgen? Dieſes, daß alle nur moͤgliche Arten muſika-
liſcher Tonſtuͤcke, Recitative und Arien, Gaſſenhauer und Al-
lemanden, von der erſten bis zur lezten Tactnote, lauter dop-
pelte Contrapuncte waͤren. Denn alle dieſe Compoſitionen
koͤnnen in einen Grundbaß aufgeloͤſet werden. Es wuͤrde aber
noch mehrers folgen, nemlich, daß, da in der Theorie, im Arti-
kel Contrapunkt, ſo viel Gutes vom doppelten Contrapunkt,
und hingegen in den Schriften des Hrn. Kirnberger vom
Rameauſchen Grundbaß ſo viel Boͤſes geſaget wird, der eine
oder andere Auctor ſich ſehr ſtark geirret haben muͤße. Es
muß alſo wohl zwiſchen dem doppelten Contrapunkt in der
Octave, und dem Grundbaß ein Unterſcheid, und der Umkehrung
der Jntervalle ungeachtet, deren Kenntniß ſowohl bey dem einen
als andern erfordert wird, das eine nicht mit dem andern zu
vermiſchen ſeyn. Bey ſo bewandten Umſtaͤnden koͤnnte denn
wohl behauptet werden, daß der Hr. Rameau den Grundbaß
erfunden habe. Man ſaget ja nicht, daß er den doppelten

Contra-
gedacht zu haben, weil er vom doppelten Contrapunet unbeſtimmt
ſpricht, und die Art deſſelben nicht anzeiget, welches ſonſten nicht
Mode iſt. Es hat zwar ſeine Richtigkeit, daß man in den uͤbrigen
Arten derſelben ebenfalls nicht einen einzigen Tact ſetzen kann, ohne
daß die Accorde bey der Umkehrung der Stimmen veraͤndert werden.
Aber es hat mit dieſer Veraͤnderung eine ganz andere Bewandtniß,
als mit der im doppelten Contrapunet ad Octavam, und es kann alſo
kein anderer als der lezte bey gegenwaͤrtiger Frage in Betracht kommen.
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[269/0289] des Artikels vom Fundamentalbaß in der Sulz. ꝛc. der Jntervalle, erbauet, der doppelte Contrapunkt in der Octave aber weit aͤlter als das Syſtem des Hrn. Rameau vom Grundbaß iſt. — Es iſt nichts gewiſſer, als daß der dop- pelte Contrapunkt in der Octave wenigſtens dreyhundert Jahr aͤlter, als das Syſtem des Hrn. Rameau iſt, indem lezteres erſt im Jahre 1722 bekannt geworden. Aber es entſtehn die zwey Fragen, 1) ob der doppelte Contrapunkt in der Octave und der Grundbaß einerley Dinge ſind; und 2) ob irgend ein Muſiker vor den Zeiten des Hrn. Rameau die Lehre vom dop- pelten Contrapunkt dazu angewendet hat, um die Aecorde der Muſik in einen Zuſammenhang zu bringen? §. 292. Sollte es wahr ſeyn, daß der doppelte Contrapunkt in der Octave und der Grundbaß einerley Dinge waͤren, was wuͤrde daraus folgen? Dieſes, daß alle nur moͤgliche Arten muſika- liſcher Tonſtuͤcke, Recitative und Arien, Gaſſenhauer und Al- lemanden, von der erſten bis zur lezten Tactnote, lauter dop- pelte Contrapuncte waͤren. Denn alle dieſe Compoſitionen koͤnnen in einen Grundbaß aufgeloͤſet werden. Es wuͤrde aber noch mehrers folgen, nemlich, daß, da in der Theorie, im Arti- kel Contrapunkt, ſo viel Gutes vom doppelten Contrapunkt, und hingegen in den Schriften des Hrn. Kirnberger vom Rameauſchen Grundbaß ſo viel Boͤſes geſaget wird, der eine oder andere Auctor ſich ſehr ſtark geirret haben muͤße. Es muß alſo wohl zwiſchen dem doppelten Contrapunkt in der Octave, und dem Grundbaß ein Unterſcheid, und der Umkehrung der Jntervalle ungeachtet, deren Kenntniß ſowohl bey dem einen als andern erfordert wird, das eine nicht mit dem andern zu vermiſchen ſeyn. Bey ſo bewandten Umſtaͤnden koͤnnte denn wohl behauptet werden, daß der Hr. Rameau den Grundbaß erfunden habe. Man ſaget ja nicht, daß er den doppelten Contra- *) *) gedacht zu haben, weil er vom doppelten Contrapunet unbeſtimmt ſpricht, und die Art deſſelben nicht anzeiget, welches ſonſten nicht Mode iſt. Es hat zwar ſeine Richtigkeit, daß man in den uͤbrigen Arten derſelben ebenfalls nicht einen einzigen Tact ſetzen kann, ohne daß die Accorde bey der Umkehrung der Stimmen veraͤndert werden. Aber es hat mit dieſer Veraͤnderung eine ganz andere Bewandtniß, als mit der im doppelten Contrapunet ad Octavam, und es kann alſo kein anderer als der lezte bey gegenwaͤrtiger Frage in Betracht kommen.

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/289>, abgerufen am 16.05.2024.