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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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Von den wesentlichen u. zufälligen Dissonanzen.
zen, welche des Generalbasses wegen so gut da als nicht da
seyn können, indem sie keine Veränderung in der Harmonie
hervorbringen, und deßwegen im Generalbaß nicht ausgedrü-
cket werden dürfen. Man kann also die wesentlichen Dis-
sonanzen
auch als solche beschreiben, welche gleich den Con-
sonanzen für sich einen eigenen Platz in der Harmonie einneh-
men, oder nach dem kürzern Ausdruck des Hrn. Schafrath,
welche selbständig sind. -- Alles vorhin gesagte kann mit
leichter Mühe auf die aus der Anticipation des Durchgangs
entstehenden Dissonanzen appliciret werden, und wir brauchen
uns nicht dabey aufzuhalten.

§. 257.

Durch was für einen Zufall sind wohl die Musiker auf die
wesentlichen Dissonanzen gekommen? Vielleicht durch das
glückliche Versehen eines Sängers oder Spielers, welcher in
einem diatonischen Gesange eine Note über die Zeit aufhielte,
oder eine andere anticipirte. Das Nachdenken des seine
Kunst zu erweitern suchenden Tonkünstlers kam dazu. Man
fand, daß der musikalische Ausdruck dadurch vermannigfalti-
get, Licht und Schatten besser vertheilet, ein unangenehmer
Affect characterisiret, und ein an sich angenehmes Verhältniß
durch die Verzögerung noch angenehmer gemachet wer-
den konnte. Man merkte, daß gewiße unharmonische
Gänge, z. E. der bey Fig. 28, dadurch harmonisch gemacht
werden konnten, und zugleich, daß die Natur so gut die Dis-
sonanzen, ja noch in größrer Anzahl als die Consonanzen gäbe.
Jhre Aufnahme wurde genehmigt, und ihr Gebrauch reguli-
ret. Diese Behandlung der Dissonanzen, so wie der Conso-
nanzen ihre, einmal reguliret, fraget es sich, wie die Lehre
von beyden in einen auf die Natur der Sache gegrün-
deten wissenschaftlichen Zusammenhang
gebracht werden
könne?

§. 258.

Jch zweifle im geringsten nicht, daß vorhergehendes Pro-
blem auf mehr als eine Art aufgelöset werden könne. Unter-
dessen ist bisher nur eine einzige Art der Auflösung bekannt

gewor-

Von den weſentlichen u. zufaͤlligen Diſſonanzen.
zen, welche des Generalbaſſes wegen ſo gut da als nicht da
ſeyn koͤnnen, indem ſie keine Veraͤnderung in der Harmonie
hervorbringen, und deßwegen im Generalbaß nicht ausgedruͤ-
cket werden duͤrfen. Man kann alſo die weſentlichen Diſ-
ſonanzen
auch als ſolche beſchreiben, welche gleich den Con-
ſonanzen fuͤr ſich einen eigenen Platz in der Harmonie einneh-
men, oder nach dem kuͤrzern Ausdruck des Hrn. Schafrath,
welche ſelbſtaͤndig ſind. — Alles vorhin geſagte kann mit
leichter Muͤhe auf die aus der Anticipation des Durchgangs
entſtehenden Diſſonanzen appliciret werden, und wir brauchen
uns nicht dabey aufzuhalten.

§. 257.

Durch was fuͤr einen Zufall ſind wohl die Muſiker auf die
weſentlichen Diſſonanzen gekommen? Vielleicht durch das
gluͤckliche Verſehen eines Saͤngers oder Spielers, welcher in
einem diatoniſchen Geſange eine Note uͤber die Zeit aufhielte,
oder eine andere anticipirte. Das Nachdenken des ſeine
Kunſt zu erweitern ſuchenden Tonkuͤnſtlers kam dazu. Man
fand, daß der muſikaliſche Ausdruck dadurch vermannigfalti-
get, Licht und Schatten beſſer vertheilet, ein unangenehmer
Affect characteriſiret, und ein an ſich angenehmes Verhaͤltniß
durch die Verzoͤgerung noch angenehmer gemachet wer-
den konnte. Man merkte, daß gewiße unharmoniſche
Gaͤnge, z. E. der bey Fig. 28, dadurch harmoniſch gemacht
werden konnten, und zugleich, daß die Natur ſo gut die Diſ-
ſonanzen, ja noch in groͤßrer Anzahl als die Conſonanzen gaͤbe.
Jhre Aufnahme wurde genehmigt, und ihr Gebrauch reguli-
ret. Dieſe Behandlung der Diſſonanzen, ſo wie der Conſo-
nanzen ihre, einmal reguliret, fraget es ſich, wie die Lehre
von beyden in einen auf die Natur der Sache gegruͤn-
deten wiſſenſchaftlichen Zuſammenhang
gebracht werden
koͤnne?

§. 258.

Jch zweifle im geringſten nicht, daß vorhergehendes Pro-
blem auf mehr als eine Art aufgeloͤſet werden koͤnne. Unter-
deſſen iſt bisher nur eine einzige Art der Aufloͤſung bekannt

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[241/0261] Von den weſentlichen u. zufaͤlligen Diſſonanzen. zen, welche des Generalbaſſes wegen ſo gut da als nicht da ſeyn koͤnnen, indem ſie keine Veraͤnderung in der Harmonie hervorbringen, und deßwegen im Generalbaß nicht ausgedruͤ- cket werden duͤrfen. Man kann alſo die weſentlichen Diſ- ſonanzen auch als ſolche beſchreiben, welche gleich den Con- ſonanzen fuͤr ſich einen eigenen Platz in der Harmonie einneh- men, oder nach dem kuͤrzern Ausdruck des Hrn. Schafrath, welche ſelbſtaͤndig ſind. — Alles vorhin geſagte kann mit leichter Muͤhe auf die aus der Anticipation des Durchgangs entſtehenden Diſſonanzen appliciret werden, und wir brauchen uns nicht dabey aufzuhalten. §. 257. Durch was fuͤr einen Zufall ſind wohl die Muſiker auf die weſentlichen Diſſonanzen gekommen? Vielleicht durch das gluͤckliche Verſehen eines Saͤngers oder Spielers, welcher in einem diatoniſchen Geſange eine Note uͤber die Zeit aufhielte, oder eine andere anticipirte. Das Nachdenken des ſeine Kunſt zu erweitern ſuchenden Tonkuͤnſtlers kam dazu. Man fand, daß der muſikaliſche Ausdruck dadurch vermannigfalti- get, Licht und Schatten beſſer vertheilet, ein unangenehmer Affect characteriſiret, und ein an ſich angenehmes Verhaͤltniß durch die Verzoͤgerung noch angenehmer gemachet wer- den konnte. Man merkte, daß gewiße unharmoniſche Gaͤnge, z. E. der bey Fig. 28, dadurch harmoniſch gemacht werden konnten, und zugleich, daß die Natur ſo gut die Diſ- ſonanzen, ja noch in groͤßrer Anzahl als die Conſonanzen gaͤbe. Jhre Aufnahme wurde genehmigt, und ihr Gebrauch reguli- ret. Dieſe Behandlung der Diſſonanzen, ſo wie der Conſo- nanzen ihre, einmal reguliret, fraget es ſich, wie die Lehre von beyden in einen auf die Natur der Sache gegruͤn- deten wiſſenſchaftlichen Zuſammenhang gebracht werden koͤnne? §. 258. Jch zweifle im geringſten nicht, daß vorhergehendes Pro- blem auf mehr als eine Art aufgeloͤſet werden koͤnne. Unter- deſſen iſt bisher nur eine einzige Art der Aufloͤſung bekannt gewor-

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/261>, abgerufen am 22.11.2024.