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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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Anhang etc. Einleitung. Von dem Unterscheid
werden, als die Känntniß verbotner oder zweydeutiger Gänge,
und ich weiß nicht, wie es manche Musiker anfangen würden,
wenn sie dergleichen verfertigen sollten, und wenn sie sich auch
den Text mit einer dreyfachen Erklärung vorbuchstabiren und
grammatisch, logisch und rhetorisch zergliedern liessen. --
Was unterscheidet die eigentliche Musik, das ist diejenige, die
in cultivirten Ländern, wo Künste und Wissenschaften blühen,
ausgeübet wird, von dem wilden Tongemisch gewisser barba-
rischen Völker in America? Nichts als die Regel, und welche
Musik hat einen aus der Natur der Sache erweislichen Vor-
zug vor der andern, die eigentliche oder barbarische? Ohne
Zweifel die eigentliche. So gewiß also die bey uns übliche Art
der Musik vor der irokesischen den Vorzug hat, so gewiß ist in
dem Gebiet der eigentlich Musik, von zwey Ausarbeitungen
diejenige, in welcher weniger wider die Regeln gefehlet wor-
den, die Regeln mögen nun die Harmonie oder Melodie, die
Tact- oder Tonordnung, die grammatische oder rhetorische Be-
arbeitung des Textes, die Stimme oder das Jnstrument, und
so weiter, betreffen, derjenigen vorzuziehen, in welcher mehr
gefehlet worden. Da aber unter allen Fehlern diejenigen von
gewissen Tonkünstlern am ersten und vorzüglich gerüget wer-
den, welche die Harmonie betreffen, wäre es da nicht nöthig,
die Regeln der Harmonie am strengsten auszuüben? Sollte
nicht die Reinigkeit des Satzes in gewissen Fällen ein Aequi-
valent für den Mangel einer schönen Begeisterung seyn, und
sollten in diesem Falle nicht die trockensten Jdeen, wenn sie
regelmäßig bearbeitet sind, einen Anspruch auf ein Bravo!
machen können? Es ist bekannt, daß der Geschmack, wo
nicht in allen schönen Künsten, doch wenigstens in der Musik
sehr veränderlich ist, und daß in eben demselben Zeitpunkt
kein einziges Land mit einem andern, ja nicht einmal ein Ton-
künstler mit einem andern eben desselben Landes, in dem Ge-
schmack völlig übereinkömmt. Die Ausübung dieses oder je-
nen Geschmacks giebet also einem Componisten keinen wahren
oder dauerhaften Vorzug vor einem andern. Aus was für
einem Gesichtspunkt werden die aus den verfloßnen Jahrhun-
derten uns übrig gebliebenen und hin und wieder aufbehaltnen
Werke der| Tonkunst betrachtet? Man abstrahiret gewißlich

vom

Anhang ꝛc. Einleitung. Von dem Unterſcheid
werden, als die Kaͤnntniß verbotner oder zweydeutiger Gaͤnge,
und ich weiß nicht, wie es manche Muſiker anfangen wuͤrden,
wenn ſie dergleichen verfertigen ſollten, und wenn ſie ſich auch
den Text mit einer dreyfachen Erklaͤrung vorbuchſtabiren und
grammatiſch, logiſch und rhetoriſch zergliedern lieſſen. —
Was unterſcheidet die eigentliche Muſik, das iſt diejenige, die
in cultivirten Laͤndern, wo Kuͤnſte und Wiſſenſchaften bluͤhen,
ausgeuͤbet wird, von dem wilden Tongemiſch gewiſſer barba-
riſchen Voͤlker in America? Nichts als die Regel, und welche
Muſik hat einen aus der Natur der Sache erweislichen Vor-
zug vor der andern, die eigentliche oder barbariſche? Ohne
Zweifel die eigentliche. So gewiß alſo die bey uns uͤbliche Art
der Muſik vor der irokeſiſchen den Vorzug hat, ſo gewiß iſt in
dem Gebiet der eigentlich Muſik, von zwey Ausarbeitungen
diejenige, in welcher weniger wider die Regeln gefehlet wor-
den, die Regeln moͤgen nun die Harmonie oder Melodie, die
Tact- oder Tonordnung, die grammatiſche oder rhetoriſche Be-
arbeitung des Textes, die Stimme oder das Jnſtrument, und
ſo weiter, betreffen, derjenigen vorzuziehen, in welcher mehr
gefehlet worden. Da aber unter allen Fehlern diejenigen von
gewiſſen Tonkuͤnſtlern am erſten und vorzuͤglich geruͤget wer-
den, welche die Harmonie betreffen, waͤre es da nicht noͤthig,
die Regeln der Harmonie am ſtrengſten auszuuͤben? Sollte
nicht die Reinigkeit des Satzes in gewiſſen Faͤllen ein Aequi-
valent fuͤr den Mangel einer ſchoͤnen Begeiſterung ſeyn, und
ſollten in dieſem Falle nicht die trockenſten Jdeen, wenn ſie
regelmaͤßig bearbeitet ſind, einen Anſpruch auf ein Bravo!
machen koͤnnen? Es iſt bekannt, daß der Geſchmack, wo
nicht in allen ſchoͤnen Kuͤnſten, doch wenigſtens in der Muſik
ſehr veraͤnderlich iſt, und daß in eben demſelben Zeitpunkt
kein einziges Land mit einem andern, ja nicht einmal ein Ton-
kuͤnſtler mit einem andern eben deſſelben Landes, in dem Ge-
ſchmack voͤllig uͤbereinkoͤmmt. Die Ausuͤbung dieſes oder je-
nen Geſchmacks giebet alſo einem Componiſten keinen wahren
oder dauerhaften Vorzug vor einem andern. Aus was fuͤr
einem Geſichtspunkt werden die aus den verfloßnen Jahrhun-
derten uns uͤbrig gebliebenen und hin und wieder aufbehaltnen
Werke der| Tonkunſt betrachtet? Man abſtrahiret gewißlich

vom
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[236/0256] Anhang ꝛc. Einleitung. Von dem Unterſcheid werden, als die Kaͤnntniß verbotner oder zweydeutiger Gaͤnge, und ich weiß nicht, wie es manche Muſiker anfangen wuͤrden, wenn ſie dergleichen verfertigen ſollten, und wenn ſie ſich auch den Text mit einer dreyfachen Erklaͤrung vorbuchſtabiren und grammatiſch, logiſch und rhetoriſch zergliedern lieſſen. — Was unterſcheidet die eigentliche Muſik, das iſt diejenige, die in cultivirten Laͤndern, wo Kuͤnſte und Wiſſenſchaften bluͤhen, ausgeuͤbet wird, von dem wilden Tongemiſch gewiſſer barba- riſchen Voͤlker in America? Nichts als die Regel, und welche Muſik hat einen aus der Natur der Sache erweislichen Vor- zug vor der andern, die eigentliche oder barbariſche? Ohne Zweifel die eigentliche. So gewiß alſo die bey uns uͤbliche Art der Muſik vor der irokeſiſchen den Vorzug hat, ſo gewiß iſt in dem Gebiet der eigentlich Muſik, von zwey Ausarbeitungen diejenige, in welcher weniger wider die Regeln gefehlet wor- den, die Regeln moͤgen nun die Harmonie oder Melodie, die Tact- oder Tonordnung, die grammatiſche oder rhetoriſche Be- arbeitung des Textes, die Stimme oder das Jnſtrument, und ſo weiter, betreffen, derjenigen vorzuziehen, in welcher mehr gefehlet worden. Da aber unter allen Fehlern diejenigen von gewiſſen Tonkuͤnſtlern am erſten und vorzuͤglich geruͤget wer- den, welche die Harmonie betreffen, waͤre es da nicht noͤthig, die Regeln der Harmonie am ſtrengſten auszuuͤben? Sollte nicht die Reinigkeit des Satzes in gewiſſen Faͤllen ein Aequi- valent fuͤr den Mangel einer ſchoͤnen Begeiſterung ſeyn, und ſollten in dieſem Falle nicht die trockenſten Jdeen, wenn ſie regelmaͤßig bearbeitet ſind, einen Anſpruch auf ein Bravo! machen koͤnnen? Es iſt bekannt, daß der Geſchmack, wo nicht in allen ſchoͤnen Kuͤnſten, doch wenigſtens in der Muſik ſehr veraͤnderlich iſt, und daß in eben demſelben Zeitpunkt kein einziges Land mit einem andern, ja nicht einmal ein Ton- kuͤnſtler mit einem andern eben deſſelben Landes, in dem Ge- ſchmack voͤllig uͤbereinkoͤmmt. Die Ausuͤbung dieſes oder je- nen Geſchmacks giebet alſo einem Componiſten keinen wahren oder dauerhaften Vorzug vor einem andern. Aus was fuͤr einem Geſichtspunkt werden die aus den verfloßnen Jahrhun- derten uns uͤbrig gebliebenen und hin und wieder aufbehaltnen Werke der| Tonkunſt betrachtet? Man abſtrahiret gewißlich vom

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/256>, abgerufen am 15.05.2024.