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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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Fünf und zwanzigster Abschn. Etwas von etc.
§. 240.

Das Jntervall der verminderten Quarte ist entweder ein sing-
bares Jntervall, oder nicht. Jm leztern Fall kann weder
gis:cn, noch eis:a u. s. w. gesungen werden; in dem erstern aber so-
wohl das eine als das andere. Es findet sich nemlich kein anderer
Unterscheid, als welcher zwischen den mit wenigem und mehrern
Versetzungszeichen vorgezeichneten Tönen statt findet, und nach wel-
chem es leichter ist, aus einem weder Kreutze noch Been in der Vor-
zeichnung führenden Ton, als aus einem, welcher viele dergleichen
Versetzungszeichen gebrauchet, zu singen oder zu spielen. Was thut
aber der Sänger, wenn er aus einem solchen schwerern Tone singen
soll? Er bildet sich einen andern Schlüssel ein, und versetzet dadurch
seine Partie in einen leichtern Ton. Das sind Dinge, die ja allen
Schülern bekannt und geläufig sind. Denn daraus, daß in der
Kirnberg. Temperatur das his:e, d:ges, eis:a, und g:ces = 4:5
ist, folget nicht, daß diese Jntervalle so seyn müssen, und noch we-
niger, daß deßwegen jene verminderte Quarten in Cis, Es, Fis und As
mol nicht gebrauchet werden können. Ein anders ist es, daß die
verminderte Quarte unter die schwerern Jntervalle gehöret. Aber
wenn sie ein Sänger in einem Tone singen gelernet hat, so muß er
sie auch in einem andern singen können, und um sich die Sache zu
erleichtern, darf er ja nur transponiren.

§. 241.

Wir wollen aber den menschlichen Gesang bey Seite setzen, und
uns in einem Trio oder Solo, welches von einem nach Kirnberger-
scher Art gestimmten Flügel begleitet wird, die verminderte Quar-
te
his:en denken. Wird es da dem Hrn. Kirnberger angenehmer
seyn, wenn der Violinist dieses Jntervall in dem Verhältniß 81:64,
oder in 5:4 nimmt? Nimmt er es in 81:64, so differiret es um
Comm. pyth. von dem Clavier, und veranlasset ein starkes Kopf-
weh; und nimmt er es in 5:4, so empfindet es der Hr. Kirnberger
übel, ungeachtet dieses Verhältniß mit dem seinigen übereinstimmet.
Er empfindet es aber deswegen übel, weil his:en = 81:64 seyn soll,
u. s. w. Was soll der Geiger nun thun? Ey nun! die in der Kirn-
bergerschen Temperatur nicht befindlichen Tonarten müssen auf keine
Weise berühret werden. Wenn wir nun vorhin gesehen haben, daß
alle Tonarten aus dieser Temperatur wegcalculiret werden können,
so -- so ist die ganze Kirnbergersche Temperatur selbst, durch eigene
Schuld ihres berühmten Erfinders, wegcalculiret worden, und man
wird wohl thun, eine mit allen zwölf harten und zwölf weichen Ton-
arten versehene bessere Temperatur zu erwählen, damit nicht die
ganze Musik wegcalculiret werde.



Anhang
Fuͤnf und zwanzigſter Abſchn. Etwas von ꝛc.
§. 240.

Das Jntervall der verminderten Quarte iſt entweder ein ſing-
bares Jntervall, oder nicht. Jm leztern Fall kann weder
gis:c̄, noch eis:a u. ſ. w. geſungen werden; in dem erſtern aber ſo-
wohl das eine als das andere. Es findet ſich nemlich kein anderer
Unterſcheid, als welcher zwiſchen den mit wenigem und mehrern
Verſetzungszeichen vorgezeichneten Toͤnen ſtatt findet, und nach wel-
chem es leichter iſt, aus einem weder Kreutze noch Been in der Vor-
zeichnung fuͤhrenden Ton, als aus einem, welcher viele dergleichen
Verſetzungszeichen gebrauchet, zu ſingen oder zu ſpielen. Was thut
aber der Saͤnger, wenn er aus einem ſolchen ſchwerern Tone ſingen
ſoll? Er bildet ſich einen andern Schluͤſſel ein, und verſetzet dadurch
ſeine Partie in einen leichtern Ton. Das ſind Dinge, die ja allen
Schuͤlern bekannt und gelaͤufig ſind. Denn daraus, daß in der
Kirnberg. Temperatur das his:e, d:ges, eis:a, und g:ces = 4:5
iſt, folget nicht, daß dieſe Jntervalle ſo ſeyn muͤſſen, und noch we-
niger, daß deßwegen jene verminderte Quarten in Cis, Es, Fis und As
mol nicht gebrauchet werden koͤnnen. Ein anders iſt es, daß die
verminderte Quarte unter die ſchwerern Jntervalle gehoͤret. Aber
wenn ſie ein Saͤnger in einem Tone ſingen gelernet hat, ſo muß er
ſie auch in einem andern ſingen koͤnnen, und um ſich die Sache zu
erleichtern, darf er ja nur transponiren.

§. 241.

Wir wollen aber den menſchlichen Geſang bey Seite ſetzen, und
uns in einem Trio oder Solo, welches von einem nach Kirnberger-
ſcher Art geſtimmten Fluͤgel begleitet wird, die verminderte Quar-
te
his:ē denken. Wird es da dem Hrn. Kirnberger angenehmer
ſeyn, wenn der Violiniſt dieſes Jntervall in dem Verhaͤltniß 81:64,
oder in 5:4 nimmt? Nimmt er es in 81:64, ſo differiret es um
Comm. pyth. von dem Clavier, und veranlaſſet ein ſtarkes Kopf-
weh; und nimmt er es in 5:4, ſo empfindet es der Hr. Kirnberger
uͤbel, ungeachtet dieſes Verhaͤltniß mit dem ſeinigen uͤbereinſtimmet.
Er empfindet es aber deswegen uͤbel, weil his:ē = 81:64 ſeyn ſoll,
u. ſ. w. Was ſoll der Geiger nun thun? Ey nun! die in der Kirn-
bergerſchen Temperatur nicht befindlichen Tonarten muͤſſen auf keine
Weiſe beruͤhret werden. Wenn wir nun vorhin geſehen haben, daß
alle Tonarten aus dieſer Temperatur wegcalculiret werden koͤnnen,
ſo — ſo iſt die ganze Kirnbergerſche Temperatur ſelbſt, durch eigene
Schuld ihres beruͤhmten Erfinders, wegcalculiret worden, und man
wird wohl thun, eine mit allen zwoͤlf harten und zwoͤlf weichen Ton-
arten verſehene beſſere Temperatur zu erwaͤhlen, damit nicht die
ganze Muſik wegcalculiret werde.



Anhang
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[226/0246] Fuͤnf und zwanzigſter Abſchn. Etwas von ꝛc. §. 240. Das Jntervall der verminderten Quarte iſt entweder ein ſing- bares Jntervall, oder nicht. Jm leztern Fall kann weder gis:c̄, noch eis:a u. ſ. w. geſungen werden; in dem erſtern aber ſo- wohl das eine als das andere. Es findet ſich nemlich kein anderer Unterſcheid, als welcher zwiſchen den mit wenigem und mehrern Verſetzungszeichen vorgezeichneten Toͤnen ſtatt findet, und nach wel- chem es leichter iſt, aus einem weder Kreutze noch Been in der Vor- zeichnung fuͤhrenden Ton, als aus einem, welcher viele dergleichen Verſetzungszeichen gebrauchet, zu ſingen oder zu ſpielen. Was thut aber der Saͤnger, wenn er aus einem ſolchen ſchwerern Tone ſingen ſoll? Er bildet ſich einen andern Schluͤſſel ein, und verſetzet dadurch ſeine Partie in einen leichtern Ton. Das ſind Dinge, die ja allen Schuͤlern bekannt und gelaͤufig ſind. Denn daraus, daß in der Kirnberg. Temperatur das his:e, d:ges, eis:a, und g:ces = 4:5 iſt, folget nicht, daß dieſe Jntervalle ſo ſeyn muͤſſen, und noch we- niger, daß deßwegen jene verminderte Quarten in Cis, Es, Fis und As mol nicht gebrauchet werden koͤnnen. Ein anders iſt es, daß die verminderte Quarte unter die ſchwerern Jntervalle gehoͤret. Aber wenn ſie ein Saͤnger in einem Tone ſingen gelernet hat, ſo muß er ſie auch in einem andern ſingen koͤnnen, und um ſich die Sache zu erleichtern, darf er ja nur transponiren. §. 241. Wir wollen aber den menſchlichen Geſang bey Seite ſetzen, und uns in einem Trio oder Solo, welches von einem nach Kirnberger- ſcher Art geſtimmten Fluͤgel begleitet wird, die verminderte Quar- te his:ē denken. Wird es da dem Hrn. Kirnberger angenehmer ſeyn, wenn der Violiniſt dieſes Jntervall in dem Verhaͤltniß 81:64, oder in 5:4 nimmt? Nimmt er es in 81:64, ſo differiret es um [FORMEL] Comm. pyth. von dem Clavier, und veranlaſſet ein ſtarkes Kopf- weh; und nimmt er es in 5:4, ſo empfindet es der Hr. Kirnberger uͤbel, ungeachtet dieſes Verhaͤltniß mit dem ſeinigen uͤbereinſtimmet. Er empfindet es aber deswegen uͤbel, weil his:ē = 81:64 ſeyn ſoll, u. ſ. w. Was ſoll der Geiger nun thun? Ey nun! die in der Kirn- bergerſchen Temperatur nicht befindlichen Tonarten muͤſſen auf keine Weiſe beruͤhret werden. Wenn wir nun vorhin geſehen haben, daß alle Tonarten aus dieſer Temperatur wegcalculiret werden koͤnnen, ſo — ſo iſt die ganze Kirnbergerſche Temperatur ſelbſt, durch eigene Schuld ihres beruͤhmten Erfinders, wegcalculiret worden, und man wird wohl thun, eine mit allen zwoͤlf harten und zwoͤlf weichen Ton- arten verſehene beſſere Temperatur zu erwaͤhlen, damit nicht die ganze Muſik wegcalculiret werde. Anhang

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/246>, abgerufen am 02.05.2024.