Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite

der Lehre des Hrn. Kirnberg. v. der ungleichschw. etc.
delt worden. Man weiß, 1) daß sie die Stimme von ihrer
Standhöhe abziehen, und 2) daß sie böse Jntervalle in der
Harmonie geben. -- Wenn in der vorgeschlagenen Tempe-
ratur nicht ein Ton zum Schaden eines andern verändert wor-
den ist, so ist es nirgends geschehen. Die ganze Anlage der-
selben bringt es so mit sich, indem neun Quinten rein und nur
drey alterirt seyn sollen. Jst nicht die Quinte G:D zum
Schaden von D:A, und E:H zum Schaden von A:E ganz
rein gemachet worden? etc. Wenn ein Violinist nach einem der-
gestalt temperirten Clavier sein Jnstrument stimmen will, soll
er seinen Ton nach d oder a nehmen? Nimmt er ihn von d ab,
so wird sein ofnes a um von dem a auf dem Clavier differi-
ren, und temperirt er das a durch die Applicatur, so wird es
annoch immer um Comm. pyth. differiren. Nun setze man,
daß das a aus der Quinte d:a auf dem Clavier nur um
Comm. pyth. erniedrigt ist, wie wird die Differenz zwischen dem
a auf der Violine und dem Claviere seyn? Kleiner oder größer?
Die Antwort ist leicht, und man kann dieses mit gehöriger Art
auf die Quinte a e appliciren. -- Daß hier sehr willkürlich
verfahren worden, ist daraus klar, daß in der ersten Kirnber-
gerschen Temperatur, zwischen welcher und der zweyten der
Hr. Erfinder uns die Wahl lässet, das d:a nicht bloß zum
Schaden dieser Quinte, sondern zum Schaden aller andern,
um eilf zwölftheil Comm. pyth. erniedrigt worden.

Vier und zwanzigster Abschnitt.
Vorzug der gleichschwebenden Temperatur
vor der ungleichschwebenden.


§. 233.

Das System unserer Musik ist nicht so beschaffen, daß ein
Ton nur eine ihm eigne Function hat, sondern es wird
ebenderselbe Ton nicht nur im diatonischen, sondern auch im

chroma-

der Lehre des Hrn. Kirnberg. v. der ungleichſchw. ꝛc.
delt worden. Man weiß, 1) daß ſie die Stimme von ihrer
Standhoͤhe abziehen, und 2) daß ſie boͤſe Jntervalle in der
Harmonie geben. — Wenn in der vorgeſchlagenen Tempe-
ratur nicht ein Ton zum Schaden eines andern veraͤndert wor-
den iſt, ſo iſt es nirgends geſchehen. Die ganze Anlage der-
ſelben bringt es ſo mit ſich, indem neun Quinten rein und nur
drey alterirt ſeyn ſollen. Jſt nicht die Quinte G:D zum
Schaden von D:A, und E:H zum Schaden von A:E ganz
rein gemachet worden? ꝛc. Wenn ein Violiniſt nach einem der-
geſtalt temperirten Clavier ſein Jnſtrument ſtimmen will, ſoll
er ſeinen Ton nach oder nehmen? Nimmt er ihn von ab,
ſo wird ſein ofnes um von dem auf dem Clavier differi-
ren, und temperirt er das a durch die Applicatur, ſo wird es
annoch immer um Com̃. pyth. differiren. Nun ſetze man,
daß das a aus der Quinte d:a auf dem Clavier nur um
Com̃. pyth. erniedrigt iſt, wie wird die Differenz zwiſchen dem
auf der Violine und dem Claviere ſeyn? Kleiner oder groͤßer?
Die Antwort iſt leicht, und man kann dieſes mit gehoͤriger Art
auf die Quinte a̅ e̿ appliciren. — Daß hier ſehr willkuͤrlich
verfahren worden, iſt daraus klar, daß in der erſten Kirnber-
gerſchen Temperatur, zwiſchen welcher und der zweyten der
Hr. Erfinder uns die Wahl laͤſſet, das d:a nicht bloß zum
Schaden dieſer Quinte, ſondern zum Schaden aller andern,
um eilf zwoͤlftheil Comm. pyth. erniedrigt worden.

Vier und zwanzigſter Abſchnitt.
Vorzug der gleichſchwebenden Temperatur
vor der ungleichſchwebenden.


§. 233.

Das Syſtem unſerer Muſik iſt nicht ſo beſchaffen, daß ein
Ton nur eine ihm eigne Function hat, ſondern es wird
ebenderſelbe Ton nicht nur im diatoniſchen, ſondern auch im

chroma-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0239" n="219"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der Lehre des Hrn. Kirnberg. v. der ungleich&#x017F;chw. &#xA75B;c.</hi></fw><lb/>
delt worden. Man weiß, 1) daß &#x017F;ie die Stimme von ihrer<lb/>
Standho&#x0364;he abziehen, und 2) daß &#x017F;ie bo&#x0364;&#x017F;e Jntervalle in der<lb/>
Harmonie geben. &#x2014; Wenn in der vorge&#x017F;chlagenen Tempe-<lb/>
ratur nicht ein Ton zum Schaden eines andern vera&#x0364;ndert wor-<lb/>
den i&#x017F;t, &#x017F;o i&#x017F;t es nirgends ge&#x017F;chehen. Die ganze Anlage der-<lb/>
&#x017F;elben bringt es &#x017F;o mit &#x017F;ich, indem neun Quinten rein und nur<lb/>
drey alterirt &#x017F;eyn &#x017F;ollen. J&#x017F;t nicht die Quinte <hi rendition="#aq">G:D</hi> zum<lb/>
Schaden von <hi rendition="#aq">D:A,</hi> und <hi rendition="#aq">E:H</hi> zum Schaden von <hi rendition="#aq">A:E</hi> ganz<lb/>
rein gemachet worden? &#xA75B;c. Wenn ein Violini&#x017F;t nach einem der-<lb/>
ge&#x017F;talt temperirten Clavier &#x017F;ein Jn&#x017F;trument &#x017F;timmen will, &#x017F;oll<lb/>
er &#x017F;einen Ton nach <hi rendition="#aq">d&#x0305;</hi> oder <hi rendition="#aq">a&#x0305;</hi> nehmen? Nimmt er ihn von <hi rendition="#aq">d&#x0305;</hi> ab,<lb/>
&#x017F;o wird &#x017F;ein ofnes <hi rendition="#aq">a&#x0305;</hi> um <formula notation="TeX">\frac{5½}{12}</formula> von dem <hi rendition="#aq">a&#x0305;</hi> auf dem Clavier differi-<lb/>
ren, und temperirt er das <hi rendition="#aq">a</hi> durch die Applicatur, &#x017F;o wird es<lb/>
annoch immer um <formula notation="TeX">\frac{4½}{12}</formula> Com&#x0303;. pyth. differiren. Nun &#x017F;etze man,<lb/>
daß das <hi rendition="#aq">a</hi> aus der Quinte <hi rendition="#aq">d:a</hi> auf dem Clavier nur um <formula notation="TeX">\frac{1}{12}</formula><lb/>
Com&#x0303;. pyth. erniedrigt i&#x017F;t, wie wird die Differenz zwi&#x017F;chen dem<lb/><hi rendition="#aq">a&#x0305;</hi> auf der Violine und dem Claviere &#x017F;eyn? Kleiner oder gro&#x0364;ßer?<lb/>
Die Antwort i&#x017F;t leicht, und man kann die&#x017F;es mit geho&#x0364;riger Art<lb/>
auf die Quinte <hi rendition="#aq">a&#x0305; e&#x033F;</hi> appliciren. &#x2014; Daß hier <hi rendition="#fr">&#x017F;ehr willku&#x0364;rlich</hi><lb/>
verfahren worden, i&#x017F;t daraus klar, daß in der er&#x017F;ten Kirnber-<lb/>
ger&#x017F;chen Temperatur, zwi&#x017F;chen welcher und der zweyten der<lb/>
Hr. Erfinder uns die Wahl la&#x0364;&#x017F;&#x017F;et, das <hi rendition="#aq">d:a</hi> nicht bloß zum<lb/>
Schaden die&#x017F;er Quinte, &#x017F;ondern zum Schaden aller andern,<lb/><hi rendition="#fr">um eilf zwo&#x0364;lftheil Comm. pyth.</hi> erniedrigt worden.</p>
          </div>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#b">Vier und zwanzig&#x017F;ter Ab&#x017F;chnitt.</hi><lb/>
Vorzug der gleich&#x017F;chwebenden Temperatur<lb/>
vor der ungleich&#x017F;chwebenden.</head><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 233.</head><lb/>
            <p><hi rendition="#in">D</hi>as Sy&#x017F;tem un&#x017F;erer Mu&#x017F;ik i&#x017F;t nicht &#x017F;o be&#x017F;chaffen, daß ein<lb/>
Ton nur eine ihm eigne Function hat, &#x017F;ondern es wird<lb/>
ebender&#x017F;elbe Ton nicht nur im diatoni&#x017F;chen, &#x017F;ondern auch im<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">chroma-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[219/0239] der Lehre des Hrn. Kirnberg. v. der ungleichſchw. ꝛc. delt worden. Man weiß, 1) daß ſie die Stimme von ihrer Standhoͤhe abziehen, und 2) daß ſie boͤſe Jntervalle in der Harmonie geben. — Wenn in der vorgeſchlagenen Tempe- ratur nicht ein Ton zum Schaden eines andern veraͤndert wor- den iſt, ſo iſt es nirgends geſchehen. Die ganze Anlage der- ſelben bringt es ſo mit ſich, indem neun Quinten rein und nur drey alterirt ſeyn ſollen. Jſt nicht die Quinte G:D zum Schaden von D:A, und E:H zum Schaden von A:E ganz rein gemachet worden? ꝛc. Wenn ein Violiniſt nach einem der- geſtalt temperirten Clavier ſein Jnſtrument ſtimmen will, ſoll er ſeinen Ton nach d̅ oder a̅ nehmen? Nimmt er ihn von d̅ ab, ſo wird ſein ofnes a̅ um [FORMEL] von dem a̅ auf dem Clavier differi- ren, und temperirt er das a durch die Applicatur, ſo wird es annoch immer um [FORMEL] Com̃. pyth. differiren. Nun ſetze man, daß das a aus der Quinte d:a auf dem Clavier nur um [FORMEL] Com̃. pyth. erniedrigt iſt, wie wird die Differenz zwiſchen dem a̅ auf der Violine und dem Claviere ſeyn? Kleiner oder groͤßer? Die Antwort iſt leicht, und man kann dieſes mit gehoͤriger Art auf die Quinte a̅ e̿ appliciren. — Daß hier ſehr willkuͤrlich verfahren worden, iſt daraus klar, daß in der erſten Kirnber- gerſchen Temperatur, zwiſchen welcher und der zweyten der Hr. Erfinder uns die Wahl laͤſſet, das d:a nicht bloß zum Schaden dieſer Quinte, ſondern zum Schaden aller andern, um eilf zwoͤlftheil Comm. pyth. erniedrigt worden. Vier und zwanzigſter Abſchnitt. Vorzug der gleichſchwebenden Temperatur vor der ungleichſchwebenden. §. 233. Das Syſtem unſerer Muſik iſt nicht ſo beſchaffen, daß ein Ton nur eine ihm eigne Function hat, ſondern es wird ebenderſelbe Ton nicht nur im diatoniſchen, ſondern auch im chroma-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/239
Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/239>, abgerufen am 02.05.2024.