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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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der Lehre des Hrn. Kirnberg. v. der ungleichschw. etc.
beit nach dem erwählten Ton einrichtet, so ist es sehr natür-
lich, daß das in selbigem componirte Tonstück nicht ohne Nach-
theil aus diesem Ton herausgenommen werden könne. -- Man
setze drey Claviere, auf welchen in Ansehung der Tonhöhe
das C des ersten mit dem D des zweyten, und mit dem Es des
dritten übereinkömmt. Alle drey Claviere sollen auf einerley
Art, und zwar nach der zweyten Kirnbergerschen Temperatur
gestimmet seyn, dergestalt daß, ungeachtet das zweyte Clavier
einen Ton tiefer als das erste, und das dritte einen größern
halben Ton tiefer als das zweyte srehet, dennoch auf jedem das
Jntervall c:cis = 243:256, c:d = 8:9, c:es = 27:32,
c:e
= 4:5 u. s. w. sey. Wir wollen ein in C dur gesetztes
Tanzstück, z. E. eine Gavotte oder Passepied nehmen, und
solches nach und nach auf dem ersten Clavier in C, auf dem
zweyten in D und auf dem dritten in Es spielen. Wird der
Character dieser Tonstücke durch die verschiedne Temperatur
ausgelöschet werden, und z. E. die Gavote in eine Menuet,
und die Passepied in einen Marsch ausarten, oder wird die
Gavote eine Gavote bleiben, und so weiter? Es wird sich kein
anderer Unterscheid finden, als daß die Tonstücke sich auf dem
ersten Clavier in C besser ausnehmen werden, als auf dem zwey-
ten in D, und besser auf dem zweyten in D, als auf dem dritten
in Es, weil dieser pythagorisch eingerichtete Ton der Sammelplatz
aller unreinen Töne ist. Da nemlich die Temperatur weder in
die Harmonie, noch Melodie oder Tactart influiret, und die
Tonstücke überall einerley blieben, so war keine andere Verände-
rung als die vorhergehende möglich. -- Sollte nur dieser oder
jener Ton einem gewissen Character angehören, so hätten eben-
dieselben Worte einer metastasischen Arie von den verschiednen
Componisten, welche solche seit vierzig Jahren mit Beyfall be-
ardeitet haben, alle in einerley Ton und Tonart gesetzet wer-
den müssen; so müßte das Kyrie seinen besondern Ton haben,
das Gloria seinen besondern Ton, u. s. w. Sollen nicht et-
wann die Menuetten, Bourreen, Giquen etc. ihren gewissen
eigenen Ton haben?

§. 215.

Beschluß der Anmerkung über das zweyte Argu-
ment.
Daß die Kirnbergersche Temperatur einen besondern

Chara-
N 3

der Lehre des Hrn. Kirnberg. v. der ungleichſchw. ꝛc.
beit nach dem erwaͤhlten Ton einrichtet, ſo iſt es ſehr natuͤr-
lich, daß das in ſelbigem componirte Tonſtuͤck nicht ohne Nach-
theil aus dieſem Ton herausgenommen werden koͤnne. — Man
ſetze drey Claviere, auf welchen in Anſehung der Tonhoͤhe
das C des erſten mit dem D des zweyten, und mit dem Es des
dritten uͤbereinkoͤmmt. Alle drey Claviere ſollen auf einerley
Art, und zwar nach der zweyten Kirnbergerſchen Temperatur
geſtimmet ſeyn, dergeſtalt daß, ungeachtet das zweyte Clavier
einen Ton tiefer als das erſte, und das dritte einen groͤßern
halben Ton tiefer als das zweyte ſrehet, dennoch auf jedem das
Jntervall c:cis = 243:256, c:d = 8:9, c:es = 27:32,
c:e
= 4:5 u. ſ. w. ſey. Wir wollen ein in C dur geſetztes
Tanzſtuͤck, z. E. eine Gavotte oder Paſſepied nehmen, und
ſolches nach und nach auf dem erſten Clavier in C, auf dem
zweyten in D und auf dem dritten in Es ſpielen. Wird der
Character dieſer Tonſtuͤcke durch die verſchiedne Temperatur
ausgeloͤſchet werden, und z. E. die Gavote in eine Menuet,
und die Paſſepied in einen Marſch ausarten, oder wird die
Gavote eine Gavote bleiben, und ſo weiter? Es wird ſich kein
anderer Unterſcheid finden, als daß die Tonſtuͤcke ſich auf dem
erſten Clavier in C beſſer ausnehmen werden, als auf dem zwey-
ten in D, und beſſer auf dem zweyten in D, als auf dem dritten
in Es, weil dieſer pythagoriſch eingerichtete Ton der Sammelplatz
aller unreinen Toͤne iſt. Da nemlich die Temperatur weder in
die Harmonie, noch Melodie oder Tactart influiret, und die
Tonſtuͤcke uͤberall einerley blieben, ſo war keine andere Veraͤnde-
rung als die vorhergehende moͤglich. — Sollte nur dieſer oder
jener Ton einem gewiſſen Character angehoͤren, ſo haͤtten eben-
dieſelben Worte einer metaſtaſiſchen Arie von den verſchiednen
Componiſten, welche ſolche ſeit vierzig Jahren mit Beyfall be-
ardeitet haben, alle in einerley Ton und Tonart geſetzet wer-
den muͤſſen; ſo muͤßte das Kyrie ſeinen beſondern Ton haben,
das Gloria ſeinen beſondern Ton, u. ſ. w. Sollen nicht et-
wann die Menuetten, Bourreen, Giquen ꝛc. ihren gewiſſen
eigenen Ton haben?

§. 215.

Beſchluß der Anmerkung uͤber das zweyte Argu-
ment.
Daß die Kirnbergerſche Temperatur einen beſondern

Chara-
N 3
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[197/0217] der Lehre des Hrn. Kirnberg. v. der ungleichſchw. ꝛc. beit nach dem erwaͤhlten Ton einrichtet, ſo iſt es ſehr natuͤr- lich, daß das in ſelbigem componirte Tonſtuͤck nicht ohne Nach- theil aus dieſem Ton herausgenommen werden koͤnne. — Man ſetze drey Claviere, auf welchen in Anſehung der Tonhoͤhe das C des erſten mit dem D des zweyten, und mit dem Es des dritten uͤbereinkoͤmmt. Alle drey Claviere ſollen auf einerley Art, und zwar nach der zweyten Kirnbergerſchen Temperatur geſtimmet ſeyn, dergeſtalt daß, ungeachtet das zweyte Clavier einen Ton tiefer als das erſte, und das dritte einen groͤßern halben Ton tiefer als das zweyte ſrehet, dennoch auf jedem das Jntervall c:cis = 243:256, c:d = 8:9, c:es = 27:32, c:e = 4:5 u. ſ. w. ſey. Wir wollen ein in C dur geſetztes Tanzſtuͤck, z. E. eine Gavotte oder Paſſepied nehmen, und ſolches nach und nach auf dem erſten Clavier in C, auf dem zweyten in D und auf dem dritten in Es ſpielen. Wird der Character dieſer Tonſtuͤcke durch die verſchiedne Temperatur ausgeloͤſchet werden, und z. E. die Gavote in eine Menuet, und die Paſſepied in einen Marſch ausarten, oder wird die Gavote eine Gavote bleiben, und ſo weiter? Es wird ſich kein anderer Unterſcheid finden, als daß die Tonſtuͤcke ſich auf dem erſten Clavier in C beſſer ausnehmen werden, als auf dem zwey- ten in D, und beſſer auf dem zweyten in D, als auf dem dritten in Es, weil dieſer pythagoriſch eingerichtete Ton der Sammelplatz aller unreinen Toͤne iſt. Da nemlich die Temperatur weder in die Harmonie, noch Melodie oder Tactart influiret, und die Tonſtuͤcke uͤberall einerley blieben, ſo war keine andere Veraͤnde- rung als die vorhergehende moͤglich. — Sollte nur dieſer oder jener Ton einem gewiſſen Character angehoͤren, ſo haͤtten eben- dieſelben Worte einer metaſtaſiſchen Arie von den verſchiednen Componiſten, welche ſolche ſeit vierzig Jahren mit Beyfall be- ardeitet haben, alle in einerley Ton und Tonart geſetzet wer- den muͤſſen; ſo muͤßte das Kyrie ſeinen beſondern Ton haben, das Gloria ſeinen beſondern Ton, u. ſ. w. Sollen nicht et- wann die Menuetten, Bourreen, Giquen ꝛc. ihren gewiſſen eigenen Ton haben? §. 215. Beſchluß der Anmerkung uͤber das zweyte Argu- ment. Daß die Kirnbergerſche Temperatur einen beſondern Chara- N 3

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/217>, abgerufen am 25.11.2024.