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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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der Lehre des Hrn. Kirnberg. v. der ungleichschw. etc.
§. 210.

IItes Argument. Verschiedene Characterisirung
der Tonarten.
"Es ist offenbar, (Theor. Seite 1149, Art.
"Temperatur,) daß durch die gleichschwebende Temperatur die
"Tonarten der Musik nur auf zwey heruntergesetzet würden,
"die harte und weiche; alle Durtöne wären transponirte Töne
"des C Dur, und alle Moltöne transponirte Töne des C mol.
"Deswegen fielen durch diese Temperatur gleich alle Vortheile,
"die man aus der Mannigfaltigkeit der Tonarten zieht, völlig
"weg. Diese aber sind zu schätzbar, als daß Tonsetzer von Ge-
"fühl sich derselben begeben könnten." -- "Wird eine Orgel
"oder Clavier nach der zweyten Kirnbergerschen Temperatur
"gestimmet, welches ganz leicht ist *), so bekömmt jeder Ton,
"wegen der ihm eigenen Accorde, seinen besondern Character,
"den er immer behauptet, man stimme die Jnstrumente in
"Chor- oder Kammerton, oder überhaupt höher oder tiefer als
"gewöhnlich." -- "Wer nicht einsieht, wie wichtig in ge-
"wissen Fällen die Wahl des Tones sey, der versuche das
"vortrefliche Chor aus der Graunschen Oper Jphigenia:
"Mora, mora, Iphigenia, in C oder F dur zu versetzen, und
"gebe bey der Aufführung desselben Acht, wie sehr es seine
"Kraft in diesen Tönen verliehren wird. Erwehnte (zweyte
"Kirnbergsche) Temperatur giebet demnach verschiedne Ton-
"leitern, deren jede sich vorzüglich zu gewissen Charactern des
"Ausdrucks schicket. Hierbey wollen wir beyläufig anmerken,
"daß sowohl das Es als As dur nach dieser Stimmung gerade
"die diatonische Tonleiter des Pythagoras haben."

§. 211.

Anmerkung über das zweyte Argument. Jch
wünschte, daß der Hr. Verfasser sich in Ansehung unsers
heutigen Systems
mit mehrer Präcision ausgedrückt hätte.
Denn es könnte sonst mancher auf die Gedanken gebracht wer-
den, als ob dieses System annoch eine dritte oder vierte
Tonart etc.
hätte; und dieses würde eben so falsch seyn, als
wenn man glauben wollte, daß nicht jeder der zwölf Töne un-
sers Systems der harten und weichen Tonart fähig wäre. Eine

dritte
*) Es ist vorhin gezeiget| worden, daß solches nicht möglich |ist.
der Lehre des Hrn. Kirnberg. v. der ungleichſchw. ꝛc.
§. 210.

IItes Argument. Verſchiedene Characteriſirung
der Tonarten.
„Es iſt offenbar, (Theor. Seite 1149, Art.
„Temperatur,) daß durch die gleichſchwebende Temperatur die
„Tonarten der Muſik nur auf zwey heruntergeſetzet wuͤrden,
„die harte und weiche; alle Durtoͤne waͤren transponirte Toͤne
„des C Dur, und alle Moltoͤne transponirte Toͤne des C mol.
„Deswegen fielen durch dieſe Temperatur gleich alle Vortheile,
„die man aus der Mannigfaltigkeit der Tonarten zieht, voͤllig
„weg. Dieſe aber ſind zu ſchaͤtzbar, als daß Tonſetzer von Ge-
„fuͤhl ſich derſelben begeben koͤnnten.‟ — „Wird eine Orgel
„oder Clavier nach der zweyten Kirnbergerſchen Temperatur
„geſtimmet, welches ganz leicht iſt *), ſo bekoͤmmt jeder Ton,
„wegen der ihm eigenen Accorde, ſeinen beſondern Character,
„den er immer behauptet, man ſtimme die Jnſtrumente in
„Chor- oder Kammerton, oder uͤberhaupt hoͤher oder tiefer als
„gewoͤhnlich.‟ — „Wer nicht einſieht, wie wichtig in ge-
„wiſſen Faͤllen die Wahl des Tones ſey, der verſuche das
„vortrefliche Chor aus der Graunſchen Oper Jphigenia:
Mora, mora, Iphigenia, in C oder F dur zu verſetzen, und
„gebe bey der Auffuͤhrung deſſelben Acht, wie ſehr es ſeine
„Kraft in dieſen Toͤnen verliehren wird. Erwehnte (zweyte
„Kirnbergſche) Temperatur giebet demnach verſchiedne Ton-
„leitern, deren jede ſich vorzuͤglich zu gewiſſen Charactern des
„Ausdrucks ſchicket. Hierbey wollen wir beylaͤufig anmerken,
„daß ſowohl das Es als As dur nach dieſer Stimmung gerade
„die diatoniſche Tonleiter des Pythagoras haben.‟

§. 211.

Anmerkung uͤber das zweyte Argument. Jch
wuͤnſchte, daß der Hr. Verfaſſer ſich in Anſehung unſers
heutigen Syſtems
mit mehrer Praͤciſion ausgedruͤckt haͤtte.
Denn es koͤnnte ſonſt mancher auf die Gedanken gebracht wer-
den, als ob dieſes Syſtem annoch eine dritte oder vierte
Tonart ꝛc.
haͤtte; und dieſes wuͤrde eben ſo falſch ſeyn, als
wenn man glauben wollte, daß nicht jeder der zwoͤlf Toͤne un-
ſers Syſtems der harten und weichen Tonart faͤhig waͤre. Eine

dritte
*) Es iſt vorhin gezeiget| worden, daß ſolches nicht moͤglich |iſt.
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[191/0211] der Lehre des Hrn. Kirnberg. v. der ungleichſchw. ꝛc. §. 210. IItes Argument. Verſchiedene Characteriſirung der Tonarten. „Es iſt offenbar, (Theor. Seite 1149, Art. „Temperatur,) daß durch die gleichſchwebende Temperatur die „Tonarten der Muſik nur auf zwey heruntergeſetzet wuͤrden, „die harte und weiche; alle Durtoͤne waͤren transponirte Toͤne „des C Dur, und alle Moltoͤne transponirte Toͤne des C mol. „Deswegen fielen durch dieſe Temperatur gleich alle Vortheile, „die man aus der Mannigfaltigkeit der Tonarten zieht, voͤllig „weg. Dieſe aber ſind zu ſchaͤtzbar, als daß Tonſetzer von Ge- „fuͤhl ſich derſelben begeben koͤnnten.‟ — „Wird eine Orgel „oder Clavier nach der zweyten Kirnbergerſchen Temperatur „geſtimmet, welches ganz leicht iſt *), ſo bekoͤmmt jeder Ton, „wegen der ihm eigenen Accorde, ſeinen beſondern Character, „den er immer behauptet, man ſtimme die Jnſtrumente in „Chor- oder Kammerton, oder uͤberhaupt hoͤher oder tiefer als „gewoͤhnlich.‟ — „Wer nicht einſieht, wie wichtig in ge- „wiſſen Faͤllen die Wahl des Tones ſey, der verſuche das „vortrefliche Chor aus der Graunſchen Oper Jphigenia: „Mora, mora, Iphigenia, in C oder F dur zu verſetzen, und „gebe bey der Auffuͤhrung deſſelben Acht, wie ſehr es ſeine „Kraft in dieſen Toͤnen verliehren wird. Erwehnte (zweyte „Kirnbergſche) Temperatur giebet demnach verſchiedne Ton- „leitern, deren jede ſich vorzuͤglich zu gewiſſen Charactern des „Ausdrucks ſchicket. Hierbey wollen wir beylaͤufig anmerken, „daß ſowohl das Es als As dur nach dieſer Stimmung gerade „die diatoniſche Tonleiter des Pythagoras haben.‟ §. 211. Anmerkung uͤber das zweyte Argument. Jch wuͤnſchte, daß der Hr. Verfaſſer ſich in Anſehung unſers heutigen Syſtems mit mehrer Praͤciſion ausgedruͤckt haͤtte. Denn es koͤnnte ſonſt mancher auf die Gedanken gebracht wer- den, als ob dieſes Syſtem annoch eine dritte oder vierte Tonart ꝛc. haͤtte; und dieſes wuͤrde eben ſo falſch ſeyn, als wenn man glauben wollte, daß nicht jeder der zwoͤlf Toͤne un- ſers Syſtems der harten und weichen Tonart faͤhig waͤre. Eine dritte *) Es iſt vorhin gezeiget| worden, daß ſolches nicht moͤglich |iſt.

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/211>, abgerufen am 25.11.2024.