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Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788.

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das große Anlagen und Fähigkeiten zeigt.
sucht in sein Herz legen würde. Meine Sorgfalt
für dasselbe und die Mühe, die ich mir in Absicht
auf sein Vergnügen gebe, müssen nicht größer als
die Sorgfalt und Mühe seyn, welche ich gegen meine
übrigen Kinder an den Tag lege. Je mehr ein
solches Kind der Liebling meines Herzens ist und zu
seyn verdient, desto sorgfältiger muß ich mich hüten
dasselbe zu verzärteln und es weichlich, eigensinnig,
mürrisch und übertrieben empfindlich zu machen. Da-
durch gehen oft die größten und schönsten Anlagen und
Fähigkeiten verloren oder erhalten wenigstens eine
ganz falsche und verkehrte Richtung. Dadurch wer-
den der Geist und die Thätigkeit der Menschen er-
stickt, die Trägheit und der Leichtsinn befördert und
die Mittel, Gutes zu thun und zu verbreiten, in
Quellen der Thorheit, des Lasters, des Misvergnügens
und des Elendes verwandelt. Und welchen uner-
setzlichen Schaden haben nicht schon übertriebenes
Lob und verschwendete Belohnungen bey solchen viel-
versprechenden Kindern angerichtet! Wie sehr ist es
zu beklagen, daß diese frühzeitigen Ehrenbezeigun-
gen und die süssen Schmeicheleyen, die sie erhalten,
ihnen den Fortgang auf dem Wege der Weisheit und
der Tugend erschwert, eine hohe Meinung von sich
selbst und Geringschätzung anderer ihres Gleichen bey-
gebracht und Kopf und Herz auf gefährliche Jrr-
wege geführet haben!

Nein, o Gott, ich will oft und ernsthaft darüber
nachdenken, zu welchen Absichten du wohl meinem
Kinde diese vortrefflichen Fähigkeiten und Geisteskräfte

gegeben

das große Anlagen und Fähigkeiten zeigt.
ſucht in ſein Herz legen würde. Meine Sorgfalt
für daſſelbe und die Mühe, die ich mir in Abſicht
auf ſein Vergnügen gebe, müſſen nicht größer als
die Sorgfalt und Mühe ſeyn, welche ich gegen meine
übrigen Kinder an den Tag lege. Je mehr ein
ſolches Kind der Liebling meines Herzens iſt und zu
ſeyn verdient, deſto ſorgfältiger muß ich mich hüten
daſſelbe zu verzärteln und es weichlich, eigenſinnig,
mürriſch und übertrieben empfindlich zu machen. Da-
durch gehen oft die größten und ſchönſten Anlagen und
Fähigkeiten verloren oder erhalten wenigſtens eine
ganz falſche und verkehrte Richtung. Dadurch wer-
den der Geiſt und die Thätigkeit der Menſchen er-
ſtickt, die Trägheit und der Leichtſinn befördert und
die Mittel, Gutes zu thun und zu verbreiten, in
Quellen der Thorheit, des Laſters, des Misvergnügens
und des Elendes verwandelt. Und welchen uner-
ſetzlichen Schaden haben nicht ſchon übertriebenes
Lob und verſchwendete Belohnungen bey ſolchen viel-
verſprechenden Kindern angerichtet! Wie ſehr iſt es
zu beklagen, daß dieſe frühzeitigen Ehrenbezeigun-
gen und die ſüſſen Schmeicheleyen, die ſie erhalten,
ihnen den Fortgang auf dem Wege der Weisheit und
der Tugend erſchwert, eine hohe Meinung von ſich
ſelbſt und Geringſchätzung anderer ihres Gleichen bey-
gebracht und Kopf und Herz auf gefährliche Jrr-
wege geführet haben!

Nein, o Gott, ich will oft und ernſthaft darüber
nachdenken, zu welchen Abſichten du wohl meinem
Kinde dieſe vortrefflichen Fähigkeiten und Geiſteskräfte

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[271/0283] das große Anlagen und Fähigkeiten zeigt. ſucht in ſein Herz legen würde. Meine Sorgfalt für daſſelbe und die Mühe, die ich mir in Abſicht auf ſein Vergnügen gebe, müſſen nicht größer als die Sorgfalt und Mühe ſeyn, welche ich gegen meine übrigen Kinder an den Tag lege. Je mehr ein ſolches Kind der Liebling meines Herzens iſt und zu ſeyn verdient, deſto ſorgfältiger muß ich mich hüten daſſelbe zu verzärteln und es weichlich, eigenſinnig, mürriſch und übertrieben empfindlich zu machen. Da- durch gehen oft die größten und ſchönſten Anlagen und Fähigkeiten verloren oder erhalten wenigſtens eine ganz falſche und verkehrte Richtung. Dadurch wer- den der Geiſt und die Thätigkeit der Menſchen er- ſtickt, die Trägheit und der Leichtſinn befördert und die Mittel, Gutes zu thun und zu verbreiten, in Quellen der Thorheit, des Laſters, des Misvergnügens und des Elendes verwandelt. Und welchen uner- ſetzlichen Schaden haben nicht ſchon übertriebenes Lob und verſchwendete Belohnungen bey ſolchen viel- verſprechenden Kindern angerichtet! Wie ſehr iſt es zu beklagen, daß dieſe frühzeitigen Ehrenbezeigun- gen und die ſüſſen Schmeicheleyen, die ſie erhalten, ihnen den Fortgang auf dem Wege der Weisheit und der Tugend erſchwert, eine hohe Meinung von ſich ſelbſt und Geringſchätzung anderer ihres Gleichen bey- gebracht und Kopf und Herz auf gefährliche Jrr- wege geführet haben! Nein, o Gott, ich will oft und ernſthaft darüber nachdenken, zu welchen Abſichten du wohl meinem Kinde dieſe vortrefflichen Fähigkeiten und Geiſteskräfte gegeben

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Zitationshilfe: Marezoll, Johann Gottlob: Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht vorzüglich für den aufgeklärten Theil desselben. Bd. 2. Leipzig, 1788, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marezoll_andachtsbuch02_1788/283>, abgerufen am 27.09.2024.