Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Männling, Johann Christoph: Der Europæische Helicon, Oder Musen-Berg. Alten Stettin, 1704.

Bild:
<< vorherige Seite

(3) Ein redliches Auge so seinem Nechsten nicht
mit Strahlen ritze/ und seinen guten Leimund tödte;
Noch mit Basilißken-Blicken ihm anschaue/ umb sein
gantzes Leben durch zuziehen/ sondern vielmehr sei-
ne Laster mit verbundenen Augen/ und leutseeligen
Minen betrachte/ damit also allenthalben Fried und
Ruhe grüne.

9. Sonst bleibt Stille und Einsamkeit das Ge-
häge eines Poeten/ denn die Dicht-Kunst wil vor
andern Künsten locum segregatum, und ruhige Stil-
le haben/ wie Ovidius sagt:

Carmina secessum scribentis & otia qvaerunt.

Fabius rühmt eben deswegen den Demosthenem,
daß er sich in einen Hayn oder dicken Wald verbor-
gen/ darmit seine Augen dem Gemüthe nichts an-
ders vorstellen könten/ als was er suchte/ nemlich
die lieblichste Lucubrirung. Und contribuiren schö-
ne Wälder/ angenehme Gärte/ liebliche Flüsse/ lu-
stige Gegenden sehr viel/ so wohl zu der Invention,
als Elaboration eines Gedichts. Zeit und Stun-
de aber so den Musen gefallen/ sind der Morgen und
die stille Nacht. Buchler. l. c. pag. 24.

10. Die Materie eines Versses/ sind gegenwärtige
Geschichte und Begebenheiten/ und denn die auser-
lesensten Wörter/ die man in gute Ordnung setzt/
und jedes nach dem Ziel-Maaß der Poeten abthei-
let. Und wie ich mit einem Worte eine gantze Ge-
schichte kan anzeigen/ so ist auch wohl zu observi-
ren/ daß man nicht der Zeit vergesse/ und in ihrer
Warheit und Chronologie irre/ wie Virgilius den

AEneas

(3) Ein redliches Auge ſo ſeinem Nechſten nicht
mit Strahlen ritze/ und ſeinen guten Leimund toͤdte;
Noch mit Baſilißken-Blicken ihm anſchaue/ umb ſein
gantzes Leben durch zuziehen/ ſondern vielmehr ſei-
ne Laſter mit verbundenen Augen/ und leutſeeligen
Minen betrachte/ damit alſo allenthalben Fried und
Ruhe gruͤne.

9. Sonſt bleibt Stille und Einſamkeit das Ge-
haͤge eines Poeten/ denn die Dicht-Kunſt wil vor
andern Kuͤnſten locum ſegregatum, und ruhige Stil-
le haben/ wie Ovidius ſagt:

Carmina ſecesſum ſcribentis & otia qværunt.

Fabius ruͤhmt eben deswegen den Demoſthenem,
daß er ſich in einen Hayn oder dicken Wald verbor-
gen/ darmit ſeine Augen dem Gemuͤthe nichts an-
ders vorſtellen koͤnten/ als was er ſuchte/ nemlich
die lieblichſte Lucubrirung. Und contribuiren ſchoͤ-
ne Waͤlder/ angenehme Gaͤrte/ liebliche Fluͤſſe/ lu-
ſtige Gegenden ſehr viel/ ſo wohl zu der Invention,
als Elaboration eines Gedichts. Zeit und Stun-
de aber ſo den Muſen gefallen/ ſind der Morgen und
die ſtille Nacht. Buchler. l. c. pag. 24.

10. Die Materie eines Verſſes/ ſind gegenwaͤrtige
Geſchichte und Begebenheiten/ und denn die auser-
leſenſten Woͤrter/ die man in gute Ordnung ſetzt/
und jedes nach dem Ziel-Maaß der Poeten abthei-
let. Und wie ich mit einem Worte eine gantze Ge-
ſchichte kan anzeigen/ ſo iſt auch wohl zu obſervi-
ren/ daß man nicht der Zeit vergeſſe/ und in ihrer
Warheit und Chronologie irre/ wie Virgilius den

Æneas
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0046" n="34"/>
          <p>(3) Ein redliches Auge &#x017F;o &#x017F;einem Nech&#x017F;ten nicht<lb/>
mit Strahlen ritze/ und &#x017F;einen guten Leimund to&#x0364;dte;<lb/>
Noch mit Ba&#x017F;ilißken-Blicken ihm an&#x017F;chaue/ umb &#x017F;ein<lb/>
gantzes Leben durch zuziehen/ &#x017F;ondern vielmehr &#x017F;ei-<lb/>
ne La&#x017F;ter mit verbundenen Augen/ und leut&#x017F;eeligen<lb/>
Minen betrachte/ damit al&#x017F;o allenthalben Fried und<lb/>
Ruhe gru&#x0364;ne.</p><lb/>
          <p>9. Son&#x017F;t bleibt Stille und Ein&#x017F;amkeit das Ge-<lb/>
ha&#x0364;ge eines Poeten/ denn die Dicht-Kun&#x017F;t wil vor<lb/>
andern Ku&#x0364;n&#x017F;ten <hi rendition="#aq">locum &#x017F;egregatum,</hi> und ruhige Stil-<lb/>
le haben/ wie <hi rendition="#aq">Ovidius</hi> &#x017F;agt:</p><lb/>
          <cit>
            <quote> <hi rendition="#aq">Carmina &#x017F;eces&#x017F;um &#x017F;cribentis &amp; otia qværunt.</hi> </quote>
            <bibl/>
          </cit><lb/>
          <p><hi rendition="#aq">Fabius</hi> ru&#x0364;hmt eben deswegen den <hi rendition="#aq">Demo&#x017F;thenem,</hi><lb/>
daß er &#x017F;ich in einen Hayn oder dicken Wald verbor-<lb/>
gen/ darmit &#x017F;eine Augen dem Gemu&#x0364;the nichts an-<lb/>
ders vor&#x017F;tellen ko&#x0364;nten/ als was er &#x017F;uchte/ nemlich<lb/>
die lieblich&#x017F;te <hi rendition="#aq">Lucubri</hi>rung. Und <hi rendition="#aq">contribui</hi>ren &#x017F;cho&#x0364;-<lb/>
ne Wa&#x0364;lder/ angenehme Ga&#x0364;rte/ liebliche Flu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e/ lu-<lb/>
&#x017F;tige Gegenden &#x017F;ehr viel/ &#x017F;o wohl zu der <hi rendition="#aq">Invention,</hi><lb/>
als <hi rendition="#aq">Elaboration</hi> eines Gedichts. Zeit und Stun-<lb/>
de aber &#x017F;o den <hi rendition="#aq">Mu&#x017F;en</hi> gefallen/ &#x017F;ind der Morgen und<lb/>
die &#x017F;tille Nacht. <hi rendition="#aq">Buchler. l. c. pag.</hi> 24.</p><lb/>
          <p>10. Die Materie eines Ver&#x017F;&#x017F;es/ &#x017F;ind gegenwa&#x0364;rtige<lb/>
Ge&#x017F;chichte und Begebenheiten/ und denn die auser-<lb/>
le&#x017F;en&#x017F;ten Wo&#x0364;rter/ die man in gute Ordnung &#x017F;etzt/<lb/>
und jedes nach dem Ziel-Maaß der Poeten abthei-<lb/>
let. Und wie ich mit einem Worte eine gantze Ge-<lb/>
&#x017F;chichte kan anzeigen/ &#x017F;o i&#x017F;t auch wohl zu <hi rendition="#aq">ob&#x017F;e</hi>r<hi rendition="#aq">vi-</hi><lb/>
ren/ daß man nicht der Zeit verge&#x017F;&#x017F;e/ und in ihrer<lb/>
Warheit und <hi rendition="#aq">Chronologie</hi> irre/ wie <hi rendition="#aq">Virgilius</hi> den<lb/>
<fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#aq">Æneas</hi></fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[34/0046] (3) Ein redliches Auge ſo ſeinem Nechſten nicht mit Strahlen ritze/ und ſeinen guten Leimund toͤdte; Noch mit Baſilißken-Blicken ihm anſchaue/ umb ſein gantzes Leben durch zuziehen/ ſondern vielmehr ſei- ne Laſter mit verbundenen Augen/ und leutſeeligen Minen betrachte/ damit alſo allenthalben Fried und Ruhe gruͤne. 9. Sonſt bleibt Stille und Einſamkeit das Ge- haͤge eines Poeten/ denn die Dicht-Kunſt wil vor andern Kuͤnſten locum ſegregatum, und ruhige Stil- le haben/ wie Ovidius ſagt: Carmina ſecesſum ſcribentis & otia qværunt. Fabius ruͤhmt eben deswegen den Demoſthenem, daß er ſich in einen Hayn oder dicken Wald verbor- gen/ darmit ſeine Augen dem Gemuͤthe nichts an- ders vorſtellen koͤnten/ als was er ſuchte/ nemlich die lieblichſte Lucubrirung. Und contribuiren ſchoͤ- ne Waͤlder/ angenehme Gaͤrte/ liebliche Fluͤſſe/ lu- ſtige Gegenden ſehr viel/ ſo wohl zu der Invention, als Elaboration eines Gedichts. Zeit und Stun- de aber ſo den Muſen gefallen/ ſind der Morgen und die ſtille Nacht. Buchler. l. c. pag. 24. 10. Die Materie eines Verſſes/ ſind gegenwaͤrtige Geſchichte und Begebenheiten/ und denn die auser- leſenſten Woͤrter/ die man in gute Ordnung ſetzt/ und jedes nach dem Ziel-Maaß der Poeten abthei- let. Und wie ich mit einem Worte eine gantze Ge- ſchichte kan anzeigen/ ſo iſt auch wohl zu obſervi- ren/ daß man nicht der Zeit vergeſſe/ und in ihrer Warheit und Chronologie irre/ wie Virgilius den Æneas

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Bei der Ausgabe von 1704 handelt es sich, um die … [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/maennling_helicon_1704
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/maennling_helicon_1704/46
Zitationshilfe: Männling, Johann Christoph: Der Europæische Helicon, Oder Musen-Berg. Alten Stettin, 1704. , S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/maennling_helicon_1704/46>, abgerufen am 23.11.2024.