Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Entwickelung der Principien der Statik.
punktslage a entspricht stabiles, der Lage b labiles
Gleichgewicht.

20. Wir wollen nun ein Beispiel betrachten, welches
auf den ersten Blick sehr complicirt scheint, aber durch
das Princip der virtuellen Verschiebungen sofort auf-
geklärt wird. Johann und Jakob Bernoulli stiessen
bei Gelegenheit eines Gesprächs über mathematische
Dinge, auf einem Spaziergange, in Basel auf die Frage,
welche Form wol eine an den beiden Enden befestigte,
frei aufgehängte Kette annehmen möchte. Sie kamen
bald und leicht in der Ansicht überein, dass dir Kette
diejenige Gleichgewichtsform annimmt, bei welcher ihr
Schwerpunkt möglichst tief liegt. In der That sieht
man ein, dass Gleichgewicht besteht, wenn alle Ketten-
glieder so tief gesunken sind, als dies möglich ist, wenn
keins mehr sinken kann, ohne eine entsprechende Masse
vermöge der Verbindungen gleich hoch oder höher zu
heben. Wenn der Schwerpunkt so tief als möglich ge-
sunken ist, wenn so viel geschehen ist, als geschehen kann,
besteht stabiles Gleichgewicht. Der physikalische
Theil der Aufgabe ist hiermit erledigt. Die Bestimmung
der Curve, welche bei gegebener Länge zwischen den
beiden Punkten A, B den tiefsten Schwerpunkt hat,
ist nur mehr eine mathematische Aufgabe. (Fig. 58.)

21. Fassen wir alles zusammen, so sehen wir, dass
in dem Princip der virtuellen Verschiebungen nur die
Anerkennung einer Thatsache liegt, die uns längst in-
stinctiv geläufig war, nur dass wir sie nicht so scharf
und klar erfassten. Die Thatsache besteht darin, dass
schwere Körper sich von selbst nur abwärts bewegen.
Wenn mehrere untereinander verbunden sind, sodass
sie sich nicht unabhängig voneinander verschieben
können, so bewegen sie sich nur, wenn hierbei im
ganzen schwere Masse sinken kann, oder wie dies das
Princip, nach vollkommenerer Anpassung der Gedanken
an die Thatsachen, eben schärfer ausdrückt, wenn hierbei
Arbeit geleistet werden kann. Uebertragen wir nach Er-
weiterung des Kraftbegriffes das Princip auch auf andere

Entwickelung der Principien der Statik.
punktslage a entspricht stabiles, der Lage b labiles
Gleichgewicht.

20. Wir wollen nun ein Beispiel betrachten, welches
auf den ersten Blick sehr complicirt scheint, aber durch
das Princip der virtuellen Verschiebungen sofort auf-
geklärt wird. Johann und Jakob Bernoulli stiessen
bei Gelegenheit eines Gesprächs über mathematische
Dinge, auf einem Spaziergange, in Basel auf die Frage,
welche Form wol eine an den beiden Enden befestigte,
frei aufgehängte Kette annehmen möchte. Sie kamen
bald und leicht in der Ansicht überein, dass dir Kette
diejenige Gleichgewichtsform annimmt, bei welcher ihr
Schwerpunkt möglichst tief liegt. In der That sieht
man ein, dass Gleichgewicht besteht, wenn alle Ketten-
glieder so tief gesunken sind, als dies möglich ist, wenn
keins mehr sinken kann, ohne eine entsprechende Masse
vermöge der Verbindungen gleich hoch oder höher zu
heben. Wenn der Schwerpunkt so tief als möglich ge-
sunken ist, wenn so viel geschehen ist, als geschehen kann,
besteht stabiles Gleichgewicht. Der physikalische
Theil der Aufgabe ist hiermit erledigt. Die Bestimmung
der Curve, welche bei gegebener Länge zwischen den
beiden Punkten A, B den tiefsten Schwerpunkt hat,
ist nur mehr eine mathematische Aufgabe. (Fig. 58.)

21. Fassen wir alles zusammen, so sehen wir, dass
in dem Princip der virtuellen Verschiebungen nur die
Anerkennung einer Thatsache liegt, die uns längst in-
stinctiv geläufig war, nur dass wir sie nicht so scharf
und klar erfassten. Die Thatsache besteht darin, dass
schwere Körper sich von selbst nur abwärts bewegen.
Wenn mehrere untereinander verbunden sind, sodass
sie sich nicht unabhängig voneinander verschieben
können, so bewegen sie sich nur, wenn hierbei im
ganzen schwere Masse sinken kann, oder wie dies das
Princip, nach vollkommenerer Anpassung der Gedanken
an die Thatsachen, eben schärfer ausdrückt, wenn hierbei
Arbeit geleistet werden kann. Uebertragen wir nach Er-
weiterung des Kraftbegriffes das Princip auch auf andere

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0081" n="69"/><fw place="top" type="header">Entwickelung der Principien der Statik.</fw><lb/>
punktslage <hi rendition="#i">a</hi> entspricht stabiles, der Lage <hi rendition="#i">b</hi> labiles<lb/>
Gleichgewicht.</p><lb/>
          <p>20. Wir wollen nun ein Beispiel betrachten, welches<lb/>
auf den ersten Blick sehr complicirt scheint, aber durch<lb/>
das Princip der virtuellen Verschiebungen sofort auf-<lb/>
geklärt wird. Johann und Jakob Bernoulli stiessen<lb/>
bei Gelegenheit eines Gesprächs über mathematische<lb/>
Dinge, auf einem Spaziergange, in Basel auf die Frage,<lb/>
welche Form wol eine an den beiden Enden befestigte,<lb/>
frei aufgehängte Kette annehmen möchte. Sie kamen<lb/>
bald und leicht in der Ansicht überein, dass dir Kette<lb/>
diejenige Gleichgewichtsform annimmt, bei welcher ihr<lb/>
Schwerpunkt möglichst tief liegt. In der That sieht<lb/>
man ein, dass Gleichgewicht besteht, wenn alle Ketten-<lb/>
glieder so tief gesunken sind, als dies möglich ist, wenn<lb/>
keins mehr sinken kann, ohne eine entsprechende Masse<lb/>
vermöge der Verbindungen gleich hoch oder höher zu<lb/>
heben. Wenn der Schwerpunkt so tief als möglich ge-<lb/>
sunken ist, wenn so viel geschehen ist, als geschehen kann,<lb/>
besteht stabiles Gleichgewicht. Der <hi rendition="#g">physikalische</hi><lb/>
Theil der Aufgabe ist hiermit erledigt. Die Bestimmung<lb/>
der Curve, welche bei gegebener Länge zwischen den<lb/>
beiden Punkten <hi rendition="#i">A, B</hi> den tiefsten Schwerpunkt hat,<lb/>
ist nur mehr eine <hi rendition="#g">mathematische</hi> Aufgabe. (Fig. 58.)</p><lb/>
          <p>21. Fassen wir alles zusammen, so sehen wir, dass<lb/>
in dem Princip der virtuellen Verschiebungen nur die<lb/>
Anerkennung einer Thatsache liegt, die uns längst in-<lb/>
stinctiv geläufig war, nur dass wir sie nicht so scharf<lb/>
und klar erfassten. Die Thatsache besteht darin, dass<lb/>
schwere Körper sich von selbst nur abwärts bewegen.<lb/>
Wenn mehrere untereinander verbunden sind, sodass<lb/>
sie sich nicht unabhängig voneinander verschieben<lb/>
können, so bewegen sie sich nur, wenn hierbei im<lb/><hi rendition="#g">ganzen</hi> schwere Masse sinken kann, oder wie dies das<lb/>
Princip, nach vollkommenerer Anpassung der Gedanken<lb/>
an die Thatsachen, eben schärfer ausdrückt, wenn hierbei<lb/><hi rendition="#g">Arbeit</hi> geleistet werden kann. Uebertragen wir nach Er-<lb/>
weiterung des Kraftbegriffes das Princip auch auf andere<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[69/0081] Entwickelung der Principien der Statik. punktslage a entspricht stabiles, der Lage b labiles Gleichgewicht. 20. Wir wollen nun ein Beispiel betrachten, welches auf den ersten Blick sehr complicirt scheint, aber durch das Princip der virtuellen Verschiebungen sofort auf- geklärt wird. Johann und Jakob Bernoulli stiessen bei Gelegenheit eines Gesprächs über mathematische Dinge, auf einem Spaziergange, in Basel auf die Frage, welche Form wol eine an den beiden Enden befestigte, frei aufgehängte Kette annehmen möchte. Sie kamen bald und leicht in der Ansicht überein, dass dir Kette diejenige Gleichgewichtsform annimmt, bei welcher ihr Schwerpunkt möglichst tief liegt. In der That sieht man ein, dass Gleichgewicht besteht, wenn alle Ketten- glieder so tief gesunken sind, als dies möglich ist, wenn keins mehr sinken kann, ohne eine entsprechende Masse vermöge der Verbindungen gleich hoch oder höher zu heben. Wenn der Schwerpunkt so tief als möglich ge- sunken ist, wenn so viel geschehen ist, als geschehen kann, besteht stabiles Gleichgewicht. Der physikalische Theil der Aufgabe ist hiermit erledigt. Die Bestimmung der Curve, welche bei gegebener Länge zwischen den beiden Punkten A, B den tiefsten Schwerpunkt hat, ist nur mehr eine mathematische Aufgabe. (Fig. 58.) 21. Fassen wir alles zusammen, so sehen wir, dass in dem Princip der virtuellen Verschiebungen nur die Anerkennung einer Thatsache liegt, die uns längst in- stinctiv geläufig war, nur dass wir sie nicht so scharf und klar erfassten. Die Thatsache besteht darin, dass schwere Körper sich von selbst nur abwärts bewegen. Wenn mehrere untereinander verbunden sind, sodass sie sich nicht unabhängig voneinander verschieben können, so bewegen sie sich nur, wenn hierbei im ganzen schwere Masse sinken kann, oder wie dies das Princip, nach vollkommenerer Anpassung der Gedanken an die Thatsachen, eben schärfer ausdrückt, wenn hierbei Arbeit geleistet werden kann. Uebertragen wir nach Er- weiterung des Kraftbegriffes das Princip auch auf andere

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/81
Zitationshilfe: Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/81>, abgerufen am 27.04.2024.