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Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883.

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Viertes Kapitel.
gewaltige pathologische Ausschreitungen uns das Mittel-
alter vorführt, ist nur der kleinste Theil der wissen-
schaftlichen Analyse und der begrifflichen Erkenntniss
zugänglich. Der Grundzug aller dieser Triebe ist das
Gefühl der Zusammengehörigkeit und Gleichartigkeit mit
der ganzen Natur, welches durch einseitige intellectuelle
Beschäftigung zeitweilig übertäubt, aber nicht erstickt
werden kann, welches gewiss auch einen gesunden
Kern
hat, zu welch monströsen religiösen Vorstellungen
es auch Anlass gegeben haben mag.

9. Wenn die französischen Encyklopädisten des 18.
Jahrhunderts dem Ziel nahe zu sein glaubten, die ganze
Natur physikalisch-mechanisch zu erklären, wenn Laplace
einen Geist fingirt, welcher den Lauf der Welt in alle
Zukunft anzugeben vermöchte, wenn ihm nur einmal
alle Massen mit ihren Lagen und Anfangsgeschwindig-
keiten gegeben wären, so ist diese freudige Ueber-
schätzung der Tragweite der gewonnenen physikalisch-
mechanischen Einsichten im 18. Jahrhundert verzeihlich,
ja ein liebenswürdiges, edles, erhebendes Schauspiel,
und wir können diese intellectuelle, einzig in der Ge-
schichte dastehende Freude lebhaft mitempfinden.

Nach einem Jahrhundert aber, nachdem wir besonnener
geworden sind, erscheint uns die projectirte Weltan-
schauung der Encyklopädisten als eine mechanische
Mythologie
im Gegensatz zur animistischen der
alten Religionen. Beide Anschauungen enthalten unge-
bührliche und phantastische Uebertreibungen einer ein-
seitigen Erkenntniss. Die besonnene physikalische For-
schung wird aber zur Analyse der Sinnesempfindungen
führen. Wir werden dann erkennen, dass unser Hunger
nicht so wesentlich verschieden von dem Streben der
Schwefelsäure nach Zink, und unser Wille nicht so sehr
verschieden von dem Druck des Steines auf die Unterlage
ist, als es gegenwärtig den Anschein hat. Wir werden
uns dann der Natur wieder näher fühlen, ohne dass
wir nöthig haben, uns selbst in eine uns nicht mehr
verständliche Staubwolke von Molecülen, oder die Natur

Viertes Kapitel.
gewaltige pathologische Ausschreitungen uns das Mittel-
alter vorführt, ist nur der kleinste Theil der wissen-
schaftlichen Analyse und der begrifflichen Erkenntniss
zugänglich. Der Grundzug aller dieser Triebe ist das
Gefühl der Zusammengehörigkeit und Gleichartigkeit mit
der ganzen Natur, welches durch einseitige intellectuelle
Beschäftigung zeitweilig übertäubt, aber nicht erstickt
werden kann, welches gewiss auch einen gesunden
Kern
hat, zu welch monströsen religiösen Vorstellungen
es auch Anlass gegeben haben mag.

9. Wenn die französischen Encyklopädisten des 18.
Jahrhunderts dem Ziel nahe zu sein glaubten, die ganze
Natur physikalisch-mechanisch zu erklären, wenn Laplace
einen Geist fingirt, welcher den Lauf der Welt in alle
Zukunft anzugeben vermöchte, wenn ihm nur einmal
alle Massen mit ihren Lagen und Anfangsgeschwindig-
keiten gegeben wären, so ist diese freudige Ueber-
schätzung der Tragweite der gewonnenen physikalisch-
mechanischen Einsichten im 18. Jahrhundert verzeihlich,
ja ein liebenswürdiges, edles, erhebendes Schauspiel,
und wir können diese intellectuelle, einzig in der Ge-
schichte dastehende Freude lebhaft mitempfinden.

Nach einem Jahrhundert aber, nachdem wir besonnener
geworden sind, erscheint uns die projectirte Weltan-
schauung der Encyklopädisten als eine mechanische
Mythologie
im Gegensatz zur animistischen der
alten Religionen. Beide Anschauungen enthalten unge-
bührliche und phantastische Uebertreibungen einer ein-
seitigen Erkenntniss. Die besonnene physikalische For-
schung wird aber zur Analyse der Sinnesempfindungen
führen. Wir werden dann erkennen, dass unser Hunger
nicht so wesentlich verschieden von dem Streben der
Schwefelsäure nach Zink, und unser Wille nicht so sehr
verschieden von dem Druck des Steines auf die Unterlage
ist, als es gegenwärtig den Anschein hat. Wir werden
uns dann der Natur wieder näher fühlen, ohne dass
wir nöthig haben, uns selbst in eine uns nicht mehr
verständliche Staubwolke von Molecülen, oder die Natur

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[436/0448] Viertes Kapitel. gewaltige pathologische Ausschreitungen uns das Mittel- alter vorführt, ist nur der kleinste Theil der wissen- schaftlichen Analyse und der begrifflichen Erkenntniss zugänglich. Der Grundzug aller dieser Triebe ist das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Gleichartigkeit mit der ganzen Natur, welches durch einseitige intellectuelle Beschäftigung zeitweilig übertäubt, aber nicht erstickt werden kann, welches gewiss auch einen gesunden Kern hat, zu welch monströsen religiösen Vorstellungen es auch Anlass gegeben haben mag. 9. Wenn die französischen Encyklopädisten des 18. Jahrhunderts dem Ziel nahe zu sein glaubten, die ganze Natur physikalisch-mechanisch zu erklären, wenn Laplace einen Geist fingirt, welcher den Lauf der Welt in alle Zukunft anzugeben vermöchte, wenn ihm nur einmal alle Massen mit ihren Lagen und Anfangsgeschwindig- keiten gegeben wären, so ist diese freudige Ueber- schätzung der Tragweite der gewonnenen physikalisch- mechanischen Einsichten im 18. Jahrhundert verzeihlich, ja ein liebenswürdiges, edles, erhebendes Schauspiel, und wir können diese intellectuelle, einzig in der Ge- schichte dastehende Freude lebhaft mitempfinden. Nach einem Jahrhundert aber, nachdem wir besonnener geworden sind, erscheint uns die projectirte Weltan- schauung der Encyklopädisten als eine mechanische Mythologie im Gegensatz zur animistischen der alten Religionen. Beide Anschauungen enthalten unge- bührliche und phantastische Uebertreibungen einer ein- seitigen Erkenntniss. Die besonnene physikalische For- schung wird aber zur Analyse der Sinnesempfindungen führen. Wir werden dann erkennen, dass unser Hunger nicht so wesentlich verschieden von dem Streben der Schwefelsäure nach Zink, und unser Wille nicht so sehr verschieden von dem Druck des Steines auf die Unterlage ist, als es gegenwärtig den Anschein hat. Wir werden uns dann der Natur wieder näher fühlen, ohne dass wir nöthig haben, uns selbst in eine uns nicht mehr verständliche Staubwolke von Molecülen, oder die Natur

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Zitationshilfe: Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/448>, abgerufen am 17.05.2024.