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Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883.

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Entwickelung der Principien der Statik.
nicht die gleiche Empfindung hätten. Es drängt sich
uns also die Frage auf: Woher kommt diese höhere
Autorität? Erinnern wir uns, dass der wissenschaft-
liche Beweis, die ganze wissenschaftliche Kritik nur aus
der Erkenntniss der eigenen Fehlbarkeit der Forscher
hervorgegangen sein kann, so liegt die Aufklärung nicht
weit. Wir fühlen deutlich, dass wir selbst zu dem
Zustandekommen einer instinctiven Erkenntniss nichts
beigetragen, dass wir nichts willkürlich hineingelegt
haben, sondern dass sie ganz ohne unser Zuthun da
ist. Das Mistrauen gegen unsere eigene subjective
Auffassung des Beobachteten fällt also weg.

Die Stevin'sche Ableitung ist eine der werthvollsten
Leitmuscheln in der Urgeschichte der Mechanik und
wirft ein wunderbares Licht auf den Bildungsprocess
der Wissenschaft, auf die Entstehung derselben aus in-
stinctiven Erkenntnissen. Wir erinnern uns, dass Archi-
medes ganz die gleiche Tendenz wie Stevin, nur mit
viel weniger Glück verfolgt. Auch später noch wer-
den instinctive Erkenntnisse häufig zum Ausgangspunkt
von Untersuchungen genommen. Ein jeder Experimen-
tator kann täglich an sich beobachten, wie er durch
instinctive Erkenntnisse geleitet wird. Gelingt es ihm,
begrifflich zu formuliren, was in denselben liegt, so hat
er in der Regel einen erheblichen Fortschritt ge-
macht.

Stevin's Vorgang ist kein Fehler. Läge darin auch
ein Fehler, so würden wir ihn alle theilen. Ja es ist
sogar gewiss, dass nur die Verbindung des stärksten
Instincts mit der grössten begrifflichen Kraft den grossen
Naturforscher ausmacht. Dies nöthigt uns aber keines-
wegs, aus dem Instinctiven in der Wissenschaft eine
neue Mystik zu machen, und dasselbe etwa für unfehl-
bar zu halten. Dass letzteres nicht zutrifft, erfährt
man sehr leicht. Selbst instinctive Erkenntnisse von
so grosser logischer Kraft wie das von Archimedes ver-
wendete Symmetrieprincip können irreführen. Mancher
Leser wird sich vielleicht erinnern, welche geistige Er-

Entwickelung der Principien der Statik.
nicht die gleiche Empfindung hätten. Es drängt sich
uns also die Frage auf: Woher kommt diese höhere
Autorität? Erinnern wir uns, dass der wissenschaft-
liche Beweis, die ganze wissenschaftliche Kritik nur aus
der Erkenntniss der eigenen Fehlbarkeit der Forscher
hervorgegangen sein kann, so liegt die Aufklärung nicht
weit. Wir fühlen deutlich, dass wir selbst zu dem
Zustandekommen einer instinctiven Erkenntniss nichts
beigetragen, dass wir nichts willkürlich hineingelegt
haben, sondern dass sie ganz ohne unser Zuthun da
ist. Das Mistrauen gegen unsere eigene subjective
Auffassung des Beobachteten fällt also weg.

Die Stevin’sche Ableitung ist eine der werthvollsten
Leitmuscheln in der Urgeschichte der Mechanik und
wirft ein wunderbares Licht auf den Bildungsprocess
der Wissenschaft, auf die Entstehung derselben aus in-
stinctiven Erkenntnissen. Wir erinnern uns, dass Archi-
medes ganz die gleiche Tendenz wie Stevin, nur mit
viel weniger Glück verfolgt. Auch später noch wer-
den instinctive Erkenntnisse häufig zum Ausgangspunkt
von Untersuchungen genommen. Ein jeder Experimen-
tator kann täglich an sich beobachten, wie er durch
instinctive Erkenntnisse geleitet wird. Gelingt es ihm,
begrifflich zu formuliren, was in denselben liegt, so hat
er in der Regel einen erheblichen Fortschritt ge-
macht.

Stevin’s Vorgang ist kein Fehler. Läge darin auch
ein Fehler, so würden wir ihn alle theilen. Ja es ist
sogar gewiss, dass nur die Verbindung des stärksten
Instincts mit der grössten begrifflichen Kraft den grossen
Naturforscher ausmacht. Dies nöthigt uns aber keines-
wegs, aus dem Instinctiven in der Wissenschaft eine
neue Mystik zu machen, und dasselbe etwa für unfehl-
bar zu halten. Dass letzteres nicht zutrifft, erfährt
man sehr leicht. Selbst instinctive Erkenntnisse von
so grosser logischer Kraft wie das von Archimedes ver-
wendete Symmetrieprincip können irreführen. Mancher
Leser wird sich vielleicht erinnern, welche geistige Er-

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[25/0037] Entwickelung der Principien der Statik. nicht die gleiche Empfindung hätten. Es drängt sich uns also die Frage auf: Woher kommt diese höhere Autorität? Erinnern wir uns, dass der wissenschaft- liche Beweis, die ganze wissenschaftliche Kritik nur aus der Erkenntniss der eigenen Fehlbarkeit der Forscher hervorgegangen sein kann, so liegt die Aufklärung nicht weit. Wir fühlen deutlich, dass wir selbst zu dem Zustandekommen einer instinctiven Erkenntniss nichts beigetragen, dass wir nichts willkürlich hineingelegt haben, sondern dass sie ganz ohne unser Zuthun da ist. Das Mistrauen gegen unsere eigene subjective Auffassung des Beobachteten fällt also weg. Die Stevin’sche Ableitung ist eine der werthvollsten Leitmuscheln in der Urgeschichte der Mechanik und wirft ein wunderbares Licht auf den Bildungsprocess der Wissenschaft, auf die Entstehung derselben aus in- stinctiven Erkenntnissen. Wir erinnern uns, dass Archi- medes ganz die gleiche Tendenz wie Stevin, nur mit viel weniger Glück verfolgt. Auch später noch wer- den instinctive Erkenntnisse häufig zum Ausgangspunkt von Untersuchungen genommen. Ein jeder Experimen- tator kann täglich an sich beobachten, wie er durch instinctive Erkenntnisse geleitet wird. Gelingt es ihm, begrifflich zu formuliren, was in denselben liegt, so hat er in der Regel einen erheblichen Fortschritt ge- macht. Stevin’s Vorgang ist kein Fehler. Läge darin auch ein Fehler, so würden wir ihn alle theilen. Ja es ist sogar gewiss, dass nur die Verbindung des stärksten Instincts mit der grössten begrifflichen Kraft den grossen Naturforscher ausmacht. Dies nöthigt uns aber keines- wegs, aus dem Instinctiven in der Wissenschaft eine neue Mystik zu machen, und dasselbe etwa für unfehl- bar zu halten. Dass letzteres nicht zutrifft, erfährt man sehr leicht. Selbst instinctive Erkenntnisse von so grosser logischer Kraft wie das von Archimedes ver- wendete Symmetrieprincip können irreführen. Mancher Leser wird sich vielleicht erinnern, welche geistige Er-

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Zitationshilfe: Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/37>, abgerufen am 19.04.2024.