faltigste Verwirrung hervor, wie z. B. der erwähnte Streit der Cartesianer und Leibnitzianer über das Kraftmaass. Bis in die neueste Zeit aber wenden sich die Forscher mit Vorliebe bald der einen bald der an- dern Denkweise zu. So werden die Galilei-Newton'- schen Gedanken vorzugsweise von der Poinsot'schen, die Galilei-Huyghens'schen von der Poncelet'schen Schule cultivirt.
4. Newton operirt fast ausschliesslich mit den Be- griffen Kraft, Masse, Bewegungsgrösse. Sein Gefühl für den Werth des Massenbegriffes stellt ihn über seine Vorgänger und Zeitgenossen. Galilei dachte nicht daran, dass Masse und Gewicht verschiedene Dinge seien. Auch Huyghens setzt in allen Betrachtungen die Gewichte statt der Massen, so z. B. bei den Untersuchungen über den Schwingungsmittelpunkt. Auch in der Schrift "De percussione" (über den Stoss) sagt Huyghens immer "corpus majus" (der grössere Körper) und "corpus mi- nus" (der kleinere Körper), wenn er die grössere oder kleinere Masse meint. Zur Bildung des Massenbegriffes war man erst gedrängt, als man bemerkte, dass der- selbe Körper verschiedene Beschleunigungen durch die Schwere erfahren kann. Den Anlass hierzu boten zunächst die Pendelbeobachtungen von Richer (1671--1673), aus welchen Huyghens sofort die richtigen Schlüsse zog, und die Uebertragung der dynamischen Gesetze auf die Himmelskörper. Die Wichtigkeit des ersten Punktes sehen wir daraus, dass Newton durch eigene Beob- achtungen an Pendeln aus verschiedenem Material die Proportionalität zwischen Masse und Gewicht an dem- selben Orte der Erde nachgewiesen hat. ("Principia", Sect. VI de motu et resistentia corporum funependu- lorum). Auch bei Joh. Bernoulli wird die erste Unter- scheidung von Masse und Gewicht in der "meditatio de natura centri oscillationis" (Opera omnia, Lausannae et Genevae, T. II, p. 168) durch die Bemerkung herbei- geführt, dass derselbe Körper verschiedene Schwerebe- schleunigungen annehmen kann. Die dynamischen Fragen
Zweites Kapitel.
faltigste Verwirrung hervor, wie z. B. der erwähnte Streit der Cartesianer und Leibnitzianer über das Kraftmaass. Bis in die neueste Zeit aber wenden sich die Forscher mit Vorliebe bald der einen bald der an- dern Denkweise zu. So werden die Galilei-Newton’- schen Gedanken vorzugsweise von der Poinsot’schen, die Galilei-Huyghens’schen von der Poncelet’schen Schule cultivirt.
4. Newton operirt fast ausschliesslich mit den Be- griffen Kraft, Masse, Bewegungsgrösse. Sein Gefühl für den Werth des Massenbegriffes stellt ihn über seine Vorgänger und Zeitgenossen. Galilei dachte nicht daran, dass Masse und Gewicht verschiedene Dinge seien. Auch Huyghens setzt in allen Betrachtungen die Gewichte statt der Massen, so z. B. bei den Untersuchungen über den Schwingungsmittelpunkt. Auch in der Schrift „De percussione‟ (über den Stoss) sagt Huyghens immer „corpus majus‟ (der grössere Körper) und „corpus mi- nus‟ (der kleinere Körper), wenn er die grössere oder kleinere Masse meint. Zur Bildung des Massenbegriffes war man erst gedrängt, als man bemerkte, dass der- selbe Körper verschiedene Beschleunigungen durch die Schwere erfahren kann. Den Anlass hierzu boten zunächst die Pendelbeobachtungen von Richer (1671—1673), aus welchen Huyghens sofort die richtigen Schlüsse zog, und die Uebertragung der dynamischen Gesetze auf die Himmelskörper. Die Wichtigkeit des ersten Punktes sehen wir daraus, dass Newton durch eigene Beob- achtungen an Pendeln aus verschiedenem Material die Proportionalität zwischen Masse und Gewicht an dem- selben Orte der Erde nachgewiesen hat. („Principia‟, Sect. VI de motu et resistentia corporum funependu- lorum). Auch bei Joh. Bernoulli wird die erste Unter- scheidung von Masse und Gewicht in der „meditatio de natura centri oscillationis‟ (Opera omnia, Lausannae et Genevae, T. II, p. 168) durch die Bemerkung herbei- geführt, dass derselbe Körper verschiedene Schwerebe- schleunigungen annehmen kann. Die dynamischen Fragen
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Zweites Kapitel.
faltigste Verwirrung hervor, wie z. B. der erwähnte
Streit der Cartesianer und Leibnitzianer über das
Kraftmaass. Bis in die neueste Zeit aber wenden sich
die Forscher mit Vorliebe bald der einen bald der an-
dern Denkweise zu. So werden die Galilei-Newton’-
schen Gedanken vorzugsweise von der Poinsot’schen,
die Galilei-Huyghens’schen von der Poncelet’schen Schule
cultivirt.
4. Newton operirt fast ausschliesslich mit den Be-
griffen Kraft, Masse, Bewegungsgrösse. Sein Gefühl
für den Werth des Massenbegriffes stellt ihn über seine
Vorgänger und Zeitgenossen. Galilei dachte nicht daran,
dass Masse und Gewicht verschiedene Dinge seien. Auch
Huyghens setzt in allen Betrachtungen die Gewichte
statt der Massen, so z. B. bei den Untersuchungen über
den Schwingungsmittelpunkt. Auch in der Schrift „De
percussione‟ (über den Stoss) sagt Huyghens immer
„corpus majus‟ (der grössere Körper) und „corpus mi-
nus‟ (der kleinere Körper), wenn er die grössere oder
kleinere Masse meint. Zur Bildung des Massenbegriffes
war man erst gedrängt, als man bemerkte, dass der-
selbe Körper verschiedene Beschleunigungen durch die
Schwere erfahren kann. Den Anlass hierzu boten zunächst
die Pendelbeobachtungen von Richer (1671—1673),
aus welchen Huyghens sofort die richtigen Schlüsse zog,
und die Uebertragung der dynamischen Gesetze auf die
Himmelskörper. Die Wichtigkeit des ersten Punktes
sehen wir daraus, dass Newton durch eigene Beob-
achtungen an Pendeln aus verschiedenem Material die
Proportionalität zwischen Masse und Gewicht an dem-
selben Orte der Erde nachgewiesen hat. („Principia‟,
Sect. VI de motu et resistentia corporum funependu-
lorum). Auch bei Joh. Bernoulli wird die erste Unter-
scheidung von Masse und Gewicht in der „meditatio de
natura centri oscillationis‟ (Opera omnia, Lausannae et
Genevae, T. II, p. 168) durch die Bemerkung herbei-
geführt, dass derselbe Körper verschiedene Schwerebe-
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Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/246>, abgerufen am 23.11.2024.
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