Gesammthunger. Wird einem Thiere, das bis dahin zur Genüge gefüttert wurde, nur noch die Sauerstoffnahrung gewährt, während ihm jegliche feste und flüssige Nahrung entzogen wird, so nimmt sein Ge- wicht mehr oder weniger rasch ab, bis dasselbe endlich auf einen Werth gediehen ist, bei dem das Leben nicht mehr bestehen kann. Um die Gewichtsabnahme vergleichbar zu machen, welche während der einzelnen oder der Gesammtzahl der Hungertage bei verschiedenen Thieren oder bei demselben Thiere zu verschiedenen Zeiten stattfindet, zieht man in Be- tracht die verhältnissmässigen Verluste derselben, indem man den täglichen oder gesammten Gewichtsabgang mit dem Gesammtgewichte des Thieres, welches am Beobachtungstage vorhanden war, dividirt. Dieser Quotient, welcher den Verlust der Gewichtseinheit des Thieres ausdrückt, führt den Namen proportionaler Tages- und Gesammtverlust.
1. Der Werth des proportionalen Tagesverlustes ist veränderlich mit dem hungernden Individuum und der Dauer der Hungerzeit. Diese Be- hauptung begründet sich leicht, wenn man erwägt, dass der beobachtete proportionale Tagesverlust des Gesammtkörpers das Mittel ist aus den Gewichtsabnahmen der einzelnen ihn aufbauenden Gewebselemente. Diese aber sind von sehr ungleicher Zersetzbarkeit, indem sich der Inhalt der Muskel- und Nervenröhren, der Leberzellen u. s. w. sehr viel rascher umsetzt, als die Knochen, die elastische Substanz, das Sehnengewebe. Je nachdem also ein dem Versuch unterworfenes Thier relativ mehr Knochen und Bindegewebe oder mehr Muskel und Fett enthält, wird auch der proportionale Tagesverlust grösser oder geringer sein. Was für ver- schiedene Thiere in gleichen Terminen der Hungerperiode gilt, ist nun auch anwendbar auf ein und dasselbe Thier in verschiedenen Abschnitten der Hungerzeit, da mit derselben seine Zusammensetzung wesentlich um- gestaltet wird; denn setzt man als wahrscheinlich voraus, dass der che- mische Prozess im Thierkörper während der Hungerzeit qualitativ un- verändert bleibe, so muss der proportionale Tagesverlust abnehmen, indem die rascher zersetzbaren Gewebe im Anfange des Hungerns in relativ grösserer Menge vorhanden sein müssen, als gegen das Ende desselben. Die Zersetzungsfähigkeit einzelner Gewebe ist nun bekanntlich auch keine constante, selbst dann nicht, wenn gleiche Zusammensetzung be- steht, da sie, wie z. B. die Muskeln, durch zeitweise eintretende physi- kalische Einwirkungen gesteigert oder geschwächt wird. Je häufiger sich also z. B. die Veranlassung zu Muskelerregungen einfindet, um so leb- hafter wird die Umsetzung vor sich gehen; unmöglich kann man aber erwarten, dass die verschiedenen willkührlichen und automatischen Organe des Thierleibes während der ganzen Hungerzeit eine gleich lebhafte Er- regung behaupten.
Verhungern; Gesammthunger.
Uebersicht der Verluste beim Verhungern.
Gesammthunger. Wird einem Thiere, das bis dahin zur Genüge gefüttert wurde, nur noch die Sauerstoffnahrung gewährt, während ihm jegliche feste und flüssige Nahrung entzogen wird, so nimmt sein Ge- wicht mehr oder weniger rasch ab, bis dasselbe endlich auf einen Werth gediehen ist, bei dem das Leben nicht mehr bestehen kann. Um die Gewichtsabnahme vergleichbar zu machen, welche während der einzelnen oder der Gesammtzahl der Hungertage bei verschiedenen Thieren oder bei demselben Thiere zu verschiedenen Zeiten stattfindet, zieht man in Be- tracht die verhältnissmässigen Verluste derselben, indem man den täglichen oder gesammten Gewichtsabgang mit dem Gesammtgewichte des Thieres, welches am Beobachtungstage vorhanden war, dividirt. Dieser Quotient, welcher den Verlust der Gewichtseinheit des Thieres ausdrückt, führt den Namen proportionaler Tages- und Gesammtverlust.
1. Der Werth des proportionalen Tagesverlustes ist veränderlich mit dem hungernden Individuum und der Dauer der Hungerzeit. Diese Be- hauptung begründet sich leicht, wenn man erwägt, dass der beobachtete proportionale Tagesverlust des Gesammtkörpers das Mittel ist aus den Gewichtsabnahmen der einzelnen ihn aufbauenden Gewebselemente. Diese aber sind von sehr ungleicher Zersetzbarkeit, indem sich der Inhalt der Muskel- und Nervenröhren, der Leberzellen u. s. w. sehr viel rascher umsetzt, als die Knochen, die elastische Substanz, das Sehnengewebe. Je nachdem also ein dem Versuch unterworfenes Thier relativ mehr Knochen und Bindegewebe oder mehr Muskel und Fett enthält, wird auch der proportionale Tagesverlust grösser oder geringer sein. Was für ver- schiedene Thiere in gleichen Terminen der Hungerperiode gilt, ist nun auch anwendbar auf ein und dasselbe Thier in verschiedenen Abschnitten der Hungerzeit, da mit derselben seine Zusammensetzung wesentlich um- gestaltet wird; denn setzt man als wahrscheinlich voraus, dass der che- mische Prozess im Thierkörper während der Hungerzeit qualitativ un- verändert bleibe, so muss der proportionale Tagesverlust abnehmen, indem die rascher zersetzbaren Gewebe im Anfange des Hungerns in relativ grösserer Menge vorhanden sein müssen, als gegen das Ende desselben. Die Zersetzungsfähigkeit einzelner Gewebe ist nun bekanntlich auch keine constante, selbst dann nicht, wenn gleiche Zusammensetzung be- steht, da sie, wie z. B. die Muskeln, durch zeitweise eintretende physi- kalische Einwirkungen gesteigert oder geschwächt wird. Je häufiger sich also z. B. die Veranlassung zu Muskelerregungen einfindet, um so leb- hafter wird die Umsetzung vor sich gehen; unmöglich kann man aber erwarten, dass die verschiedenen willkührlichen und automatischen Organe des Thierleibes während der ganzen Hungerzeit eine gleich lebhafte Er- regung behaupten.
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[431/0447]
Verhungern; Gesammthunger.
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Gesammthunger. Wird einem Thiere, das bis dahin zur Genüge
gefüttert wurde, nur noch die Sauerstoffnahrung gewährt, während ihm
jegliche feste und flüssige Nahrung entzogen wird, so nimmt sein Ge-
wicht mehr oder weniger rasch ab, bis dasselbe endlich auf einen Werth
gediehen ist, bei dem das Leben nicht mehr bestehen kann. Um die
Gewichtsabnahme vergleichbar zu machen, welche während der einzelnen
oder der Gesammtzahl der Hungertage bei verschiedenen Thieren oder bei
demselben Thiere zu verschiedenen Zeiten stattfindet, zieht man in Be-
tracht die verhältnissmässigen Verluste derselben, indem man den täglichen
oder gesammten Gewichtsabgang mit dem Gesammtgewichte des Thieres,
welches am Beobachtungstage vorhanden war, dividirt. Dieser Quotient,
welcher den Verlust der Gewichtseinheit des Thieres ausdrückt, führt den
Namen proportionaler Tages- und Gesammtverlust.
1. Der Werth des proportionalen Tagesverlustes ist veränderlich mit
dem hungernden Individuum und der Dauer der Hungerzeit. Diese Be-
hauptung begründet sich leicht, wenn man erwägt, dass der beobachtete
proportionale Tagesverlust des Gesammtkörpers das Mittel ist aus den
Gewichtsabnahmen der einzelnen ihn aufbauenden Gewebselemente. Diese
aber sind von sehr ungleicher Zersetzbarkeit, indem sich der Inhalt der
Muskel- und Nervenröhren, der Leberzellen u. s. w. sehr viel rascher
umsetzt, als die Knochen, die elastische Substanz, das Sehnengewebe.
Je nachdem also ein dem Versuch unterworfenes Thier relativ mehr
Knochen und Bindegewebe oder mehr Muskel und Fett enthält, wird auch
der proportionale Tagesverlust grösser oder geringer sein. Was für ver-
schiedene Thiere in gleichen Terminen der Hungerperiode gilt, ist nun
auch anwendbar auf ein und dasselbe Thier in verschiedenen Abschnitten
der Hungerzeit, da mit derselben seine Zusammensetzung wesentlich um-
gestaltet wird; denn setzt man als wahrscheinlich voraus, dass der che-
mische Prozess im Thierkörper während der Hungerzeit qualitativ un-
verändert bleibe, so muss der proportionale Tagesverlust abnehmen, indem
die rascher zersetzbaren Gewebe im Anfange des Hungerns in relativ
grösserer Menge vorhanden sein müssen, als gegen das Ende desselben.
Die Zersetzungsfähigkeit einzelner Gewebe ist nun bekanntlich auch
keine constante, selbst dann nicht, wenn gleiche Zusammensetzung be-
steht, da sie, wie z. B. die Muskeln, durch zeitweise eintretende physi-
kalische Einwirkungen gesteigert oder geschwächt wird. Je häufiger sich
also z. B. die Veranlassung zu Muskelerregungen einfindet, um so leb-
hafter wird die Umsetzung vor sich gehen; unmöglich kann man aber
erwarten, dass die verschiedenen willkührlichen und automatischen Organe
des Thierleibes während der ganzen Hungerzeit eine gleich lebhafte Er-
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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 2. Heidelberg und Leipzig, 1856, S. 431. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie02_1856/447>, abgerufen am 22.11.2024.
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