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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Kreuzung motorischer Röhren im Hirn.
derbaren Bau des Hirns schauend, von Staunen ergriffen ist über die
Leistungen dieses zarten und verschlungenen Gefüges, der wird ge-
wiss mit Abscheu sich wegwenden von den rohen Versuchen jener
Classe von Henkern, welche blindlings durch den Schädel hindurch
mit Nadeln und Messern in das feinste aller Gebilde stechen und
schneiden, unter dem dreisten Vorgeben, der Wissenschaft einen Dienst
zu leisten. Das Beginnen dieser Hirnbohrer ist kaum weniger sinnvoll
als das Bestreben, durch Schüsse aus Flinten und Pistolen, die man in
eine Cylinderuhr sendet, die Funktionen ihrer Räder und Federn zu
ermitteln.

Nach diesen Einleitungen bitten wir, mit der höchsten Vorsicht
folgende Mittheilungen aufzunehmen.

a. Die motorischen Nervenröhren, deren Stümpfe in das Hirn stei-
gen, erleiden, insofern dieses nicht schon im Rückenmark geschehen,
eine totale Kreuzung, die, in den Pyramiden beginnend, innerhalb der
Brücke vollendet wird, so dass alle Rumpf- und Extremitätennerven
in den sogenannten Grosshirnschenkeln auf der ihrer Ausbreitung in
den Muskeln entgegengesetzten Körperhälfte verlaufen. Oberhalb der
Grosshirnschenkel lassen sich die Röhren nicht weiter mit Sicherheit
als continuirliche verfolgen; dringen sie in der That von hier aus noch
in ununterbrochener Fortsetzung durch Seh- und Streifenhügel zu den
Grosshirnlappen, so müssen sie in Beziehung auf ihre Erregbarkeit be-
trächtliche Modifikationen erfahren.

Den Durchgang der motor. Rückenmarksröhren durch die Pyramiden erschliessen
wir für den Menschen aus pathologischen Thatsachen, nach welchen eine nur auf die
Bewegungsorgane beschränkte Lähmung des Rumpfes eintritt, wenn Geschwülste, die
an der vorderen Wand des Rückgrathkanals gelegen sind, die Pyramiden zusammen-
gedrückt resp. zum Schwinden gebracht haben; dass in ihnen eine Kreutzung der Ner-
ven vor sich geht, wird dadurch bewiesen, dass das Fehlen nur einer Pyramide, sei
es eine Folge ursprünglicher Entwicklung oder nachträglichen Schwindens, eine Läh-
mung der Muskeln auf der entgegengesetzten Rumpfhälfte zur Folge hat. Versuche an
höher stehenden Säugethieren, namentlich dem Hunde, bei denen ebenfalls eine Kreu-
zung der Pyramiden auf anatomischem und physiologischem Wege erwiesen ist, ma-
chen es nun für den Menschen wahrscheinlich, dass die Kreuzung allmälig geschieht,
indem eine Verletzung des unteren Theils der Pyramide zugleich gegen- und gleich-
seitige Lähmung nach sich zieht. -- Verletzungen des Hirns in der Brücke und in dem
Grosshirnschenkel lähmen nach ganz übereinstimmenden Angaben der bessern Patho-
logen immer die entgegengesetzte Rumpfhälfte; dass sich bis zu diesen Punkten die
Hirnfasern als mehr oder weniger unmittelbare Fortsetzungen der Rückenmarksfa-
sern gestalten, schliessen wir, weil direkte Erregung derselben bei höhern Säuge-
thieren, selbst nach Erlöschen aller reflektorischen Wirkungen, eine leb-
hafte Bewegung in den Gliedern der entgegengesetzten Seite hervorbringt. -- Die
physiologischen Versuche berechtigen nun aber vorerst nicht zu der Annahme, dass
sich die Fasern aus den Grosshirnschenkeln ununterbrochen durch Seh- und Strei-
fenhügel in die Grosshirnhemisphären erstrecken, weil bei den höherstehenden Säu-
gethieren und namentlich dem Hunde durch die Erregung der letzteren Gebilde keine
Bewegung des Rumpfs eingeleitet werden kann; jedenfalls stehen aber beide er-

Kreuzung motorischer Röhren im Hirn.
derbaren Bau des Hirns schauend, von Staunen ergriffen ist über die
Leistungen dieses zarten und verschlungenen Gefüges, der wird ge-
wiss mit Abscheu sich wegwenden von den rohen Versuchen jener
Classe von Henkern, welche blindlings durch den Schädel hindurch
mit Nadeln und Messern in das feinste aller Gebilde stechen und
schneiden, unter dem dreisten Vorgeben, der Wissenschaft einen Dienst
zu leisten. Das Beginnen dieser Hirnbohrer ist kaum weniger sinnvoll
als das Bestreben, durch Schüsse aus Flinten und Pistolen, die man in
eine Cylinderuhr sendet, die Funktionen ihrer Räder und Federn zu
ermitteln.

Nach diesen Einleitungen bitten wir, mit der höchsten Vorsicht
folgende Mittheilungen aufzunehmen.

a. Die motorischen Nervenröhren, deren Stümpfe in das Hirn stei-
gen, erleiden, insofern dieses nicht schon im Rückenmark geschehen,
eine totale Kreuzung, die, in den Pyramiden beginnend, innerhalb der
Brücke vollendet wird, so dass alle Rumpf- und Extremitätennerven
in den sogenannten Grosshirnschenkeln auf der ihrer Ausbreitung in
den Muskeln entgegengesetzten Körperhälfte verlaufen. Oberhalb der
Grosshirnschenkel lassen sich die Röhren nicht weiter mit Sicherheit
als continuirliche verfolgen; dringen sie in der That von hier aus noch
in ununterbrochener Fortsetzung durch Seh- und Streifenhügel zu den
Grosshirnlappen, so müssen sie in Beziehung auf ihre Erregbarkeit be-
trächtliche Modifikationen erfahren.

Den Durchgang der motor. Rückenmarksröhren durch die Pyramiden erschliessen
wir für den Menschen aus pathologischen Thatsachen, nach welchen eine nur auf die
Bewegungsorgane beschränkte Lähmung des Rumpfes eintritt, wenn Geschwülste, die
an der vorderen Wand des Rückgrathkanals gelegen sind, die Pyramiden zusammen-
gedrückt resp. zum Schwinden gebracht haben; dass in ihnen eine Kreutzung der Ner-
ven vor sich geht, wird dadurch bewiesen, dass das Fehlen nur einer Pyramide, sei
es eine Folge ursprünglicher Entwicklung oder nachträglichen Schwindens, eine Läh-
mung der Muskeln auf der entgegengesetzten Rumpfhälfte zur Folge hat. Versuche an
höher stehenden Säugethieren, namentlich dem Hunde, bei denen ebenfalls eine Kreu-
zung der Pyramiden auf anatomischem und physiologischem Wege erwiesen ist, ma-
chen es nun für den Menschen wahrscheinlich, dass die Kreuzung allmälig geschieht,
indem eine Verletzung des unteren Theils der Pyramide zugleich gegen- und gleich-
seitige Lähmung nach sich zieht. — Verletzungen des Hirns in der Brücke und in dem
Grosshirnschenkel lähmen nach ganz übereinstimmenden Angaben der bessern Patho-
logen immer die entgegengesetzte Rumpfhälfte; dass sich bis zu diesen Punkten die
Hirnfasern als mehr oder weniger unmittelbare Fortsetzungen der Rückenmarksfa-
sern gestalten, schliessen wir, weil direkte Erregung derselben bei höhern Säuge-
thieren, selbst nach Erlöschen aller reflektorischen Wirkungen, eine leb-
hafte Bewegung in den Gliedern der entgegengesetzten Seite hervorbringt. — Die
physiologischen Versuche berechtigen nun aber vorerst nicht zu der Annahme, dass
sich die Fasern aus den Grosshirnschenkeln ununterbrochen durch Seh- und Strei-
fenhügel in die Grosshirnhemisphären erstrecken, weil bei den höherstehenden Säu-
gethieren und namentlich dem Hunde durch die Erregung der letzteren Gebilde keine
Bewegung des Rumpfs eingeleitet werden kann; jedenfalls stehen aber beide er-

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[166/0180] Kreuzung motorischer Röhren im Hirn. derbaren Bau des Hirns schauend, von Staunen ergriffen ist über die Leistungen dieses zarten und verschlungenen Gefüges, der wird ge- wiss mit Abscheu sich wegwenden von den rohen Versuchen jener Classe von Henkern, welche blindlings durch den Schädel hindurch mit Nadeln und Messern in das feinste aller Gebilde stechen und schneiden, unter dem dreisten Vorgeben, der Wissenschaft einen Dienst zu leisten. Das Beginnen dieser Hirnbohrer ist kaum weniger sinnvoll als das Bestreben, durch Schüsse aus Flinten und Pistolen, die man in eine Cylinderuhr sendet, die Funktionen ihrer Räder und Federn zu ermitteln. Nach diesen Einleitungen bitten wir, mit der höchsten Vorsicht folgende Mittheilungen aufzunehmen. a. Die motorischen Nervenröhren, deren Stümpfe in das Hirn stei- gen, erleiden, insofern dieses nicht schon im Rückenmark geschehen, eine totale Kreuzung, die, in den Pyramiden beginnend, innerhalb der Brücke vollendet wird, so dass alle Rumpf- und Extremitätennerven in den sogenannten Grosshirnschenkeln auf der ihrer Ausbreitung in den Muskeln entgegengesetzten Körperhälfte verlaufen. Oberhalb der Grosshirnschenkel lassen sich die Röhren nicht weiter mit Sicherheit als continuirliche verfolgen; dringen sie in der That von hier aus noch in ununterbrochener Fortsetzung durch Seh- und Streifenhügel zu den Grosshirnlappen, so müssen sie in Beziehung auf ihre Erregbarkeit be- trächtliche Modifikationen erfahren. Den Durchgang der motor. Rückenmarksröhren durch die Pyramiden erschliessen wir für den Menschen aus pathologischen Thatsachen, nach welchen eine nur auf die Bewegungsorgane beschränkte Lähmung des Rumpfes eintritt, wenn Geschwülste, die an der vorderen Wand des Rückgrathkanals gelegen sind, die Pyramiden zusammen- gedrückt resp. zum Schwinden gebracht haben; dass in ihnen eine Kreutzung der Ner- ven vor sich geht, wird dadurch bewiesen, dass das Fehlen nur einer Pyramide, sei es eine Folge ursprünglicher Entwicklung oder nachträglichen Schwindens, eine Läh- mung der Muskeln auf der entgegengesetzten Rumpfhälfte zur Folge hat. Versuche an höher stehenden Säugethieren, namentlich dem Hunde, bei denen ebenfalls eine Kreu- zung der Pyramiden auf anatomischem und physiologischem Wege erwiesen ist, ma- chen es nun für den Menschen wahrscheinlich, dass die Kreuzung allmälig geschieht, indem eine Verletzung des unteren Theils der Pyramide zugleich gegen- und gleich- seitige Lähmung nach sich zieht. — Verletzungen des Hirns in der Brücke und in dem Grosshirnschenkel lähmen nach ganz übereinstimmenden Angaben der bessern Patho- logen immer die entgegengesetzte Rumpfhälfte; dass sich bis zu diesen Punkten die Hirnfasern als mehr oder weniger unmittelbare Fortsetzungen der Rückenmarksfa- sern gestalten, schliessen wir, weil direkte Erregung derselben bei höhern Säuge- thieren, selbst nach Erlöschen aller reflektorischen Wirkungen, eine leb- hafte Bewegung in den Gliedern der entgegengesetzten Seite hervorbringt. — Die physiologischen Versuche berechtigen nun aber vorerst nicht zu der Annahme, dass sich die Fasern aus den Grosshirnschenkeln ununterbrochen durch Seh- und Strei- fenhügel in die Grosshirnhemisphären erstrecken, weil bei den höherstehenden Säu- gethieren und namentlich dem Hunde durch die Erregung der letzteren Gebilde keine Bewegung des Rumpfs eingeleitet werden kann; jedenfalls stehen aber beide er-

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/180>, abgerufen am 28.04.2024.