Aufgabe. Die wissenschaftliche Physiologie hat die Aufgabe die Leistungen des Thierleibes festzustellen und sie aus den elemen- taren Bedingungen desselben mit Nothwendigkeit herzuleiten.
Nahebei alle Leistungen, welche von irgend einem thierischen Wesen ausgehen, so mannigfaltig sie nach ihrer specifischen Erschei- nung, nach ihrer räumlichen Verbreitung, nach ihrem absoluten Werth und nach der Zeit in der sie vor sich gehen, ausfallen, sind doch darin übereinstimmend, dass zu ihrer Erzielung jedesmal eine grössere Zahl von Bedingungen zusammengreift.
Unterwirft man in der That von diesem Gesichtspunkt aus die scheinbar einfachste Lebensäusserung, z. B. die Beugung eines Fingergliedes der Untersuchung, so gewahrt man bald dass der Anstoss zur Bewegung nicht vom Finger, sondern von einem mit ihm durch die Sehne in Verbindung stehenden Muskel ausgeht; indem sich die Auf- merksamkeit auf diesen wendet, gewahrt dieselbe, dass die von ihm ausgehende Lei- stung resultirt aus der Wirkung vieler gleichartiger Gebilde, der sogenannten Muskel- röhren; eine genaue Zergliederung zerspaltet diese wiederum in die verschiedenar- tigsten Bestandtheile und gelangt dadurch dahin den Muskelcylinder als Zusammen- ordnung von trägen mit leicht veränderlichen Bestandtheilen aufzufassen; in diesen letztern entdeckt sie darauf Theilchen von endlicher aber ausserordentlich geringer Grösse, durch deren wechselnde Anziehungen die Bewegungen im Muskel erzeugt werden; aber auch diese kleinsten Theilchen sind wieder zerlegbar in chemische Atome, electrische Flüssigkeit und Lichtäther, Wesen, welche endlich den zer- legenden Mitteln, über die die Wissenschaft heute gebietet, unbesiegbaren Wider- stand leisten. Da wir aber die Bewegung nicht unmittelbar an den Muskelmolekeln, und nicht einmal an der Muskelscheide, den Sehnen, dem Periost, sondern an dem Finger beobachten, so ist mit obiger Betrachtung nur eine Seite unserer Erscheinung zer- gliedert, nämlich diejenige, welche die Ursache der Bewegung überhaupt enthält. Denn indem sich die Bewegung auf primäre und secundäre Scheide, Sehnen, Knochen u. s. w. überträgt, erfährt sie Widerstände, die von der Steifigkeit, Elasticität, Form u. s. w. dieser Theile abhängig sind; alle diese Erscheinungen sind aber selbst wieder Folge sehr complicirter Veranstaltungen, die ebenfalls erst sämmtlich in ihre Ele- mente zerlegt werden müssen, wenn die Auflösung jener Lebensäusserung vollendet sein soll.
Ludwig, Physiolog. I. 1
Einleitung.
Aufgabe. Die wissenschaftliche Physiologie hat die Aufgabe die Leistungen des Thierleibes festzustellen und sie aus den elemen- taren Bedingungen desselben mit Nothwendigkeit herzuleiten.
Nahebei alle Leistungen, welche von irgend einem thierischen Wesen ausgehen, so mannigfaltig sie nach ihrer specifischen Erschei- nung, nach ihrer räumlichen Verbreitung, nach ihrem absoluten Werth und nach der Zeit in der sie vor sich gehen, ausfallen, sind doch darin übereinstimmend, dass zu ihrer Erzielung jedesmal eine grössere Zahl von Bedingungen zusammengreift.
Unterwirft man in der That von diesem Gesichtspunkt aus die scheinbar einfachste Lebensäusserung, z. B. die Beugung eines Fingergliedes der Untersuchung, so gewahrt man bald dass der Anstoss zur Bewegung nicht vom Finger, sondern von einem mit ihm durch die Sehne in Verbindung stehenden Muskel ausgeht; indem sich die Auf- merksamkeit auf diesen wendet, gewahrt dieselbe, dass die von ihm ausgehende Lei- stung resultirt aus der Wirkung vieler gleichartiger Gebilde, der sogenannten Muskel- röhren; eine genaue Zergliederung zerspaltet diese wiederum in die verschiedenar- tigsten Bestandtheile und gelangt dadurch dahin den Muskelcylinder als Zusammen- ordnung von trägen mit leicht veränderlichen Bestandtheilen aufzufassen; in diesen letztern entdeckt sie darauf Theilchen von endlicher aber ausserordentlich geringer Grösse, durch deren wechselnde Anziehungen die Bewegungen im Muskel erzeugt werden; aber auch diese kleinsten Theilchen sind wieder zerlegbar in chemische Atome, electrische Flüssigkeit und Lichtäther, Wesen, welche endlich den zer- legenden Mitteln, über die die Wissenschaft heute gebietet, unbesiegbaren Wider- stand leisten. Da wir aber die Bewegung nicht unmittelbar an den Muskelmolekeln, und nicht einmal an der Muskelscheide, den Sehnen, dem Periost, sondern an dem Finger beobachten, so ist mit obiger Betrachtung nur eine Seite unserer Erscheinung zer- gliedert, nämlich diejenige, welche die Ursache der Bewegung überhaupt enthält. Denn indem sich die Bewegung auf primäre und secundäre Scheide, Sehnen, Knochen u. s. w. überträgt, erfährt sie Widerstände, die von der Steifigkeit, Elasticität, Form u. s. w. dieser Theile abhängig sind; alle diese Erscheinungen sind aber selbst wieder Folge sehr complicirter Veranstaltungen, die ebenfalls erst sämmtlich in ihre Ele- mente zerlegt werden müssen, wenn die Auflösung jener Lebensäusserung vollendet sein soll.
Ludwig, Physiolog. I. 1
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[[1]/0015]
Einleitung.
Aufgabe. Die wissenschaftliche Physiologie hat die Aufgabe
die Leistungen des Thierleibes festzustellen und sie aus den elemen-
taren Bedingungen desselben mit Nothwendigkeit herzuleiten.
Nahebei alle Leistungen, welche von irgend einem thierischen
Wesen ausgehen, so mannigfaltig sie nach ihrer specifischen Erschei-
nung, nach ihrer räumlichen Verbreitung, nach ihrem absoluten Werth
und nach der Zeit in der sie vor sich gehen, ausfallen, sind doch darin
übereinstimmend, dass zu ihrer Erzielung jedesmal eine grössere Zahl
von Bedingungen zusammengreift.
Unterwirft man in der That von diesem Gesichtspunkt aus die scheinbar einfachste
Lebensäusserung, z. B. die Beugung eines Fingergliedes der Untersuchung, so gewahrt
man bald dass der Anstoss zur Bewegung nicht vom Finger, sondern von einem mit
ihm durch die Sehne in Verbindung stehenden Muskel ausgeht; indem sich die Auf-
merksamkeit auf diesen wendet, gewahrt dieselbe, dass die von ihm ausgehende Lei-
stung resultirt aus der Wirkung vieler gleichartiger Gebilde, der sogenannten Muskel-
röhren; eine genaue Zergliederung zerspaltet diese wiederum in die verschiedenar-
tigsten Bestandtheile und gelangt dadurch dahin den Muskelcylinder als Zusammen-
ordnung von trägen mit leicht veränderlichen Bestandtheilen aufzufassen; in diesen
letztern entdeckt sie darauf Theilchen von endlicher aber ausserordentlich geringer
Grösse, durch deren wechselnde Anziehungen die Bewegungen im Muskel erzeugt
werden; aber auch diese kleinsten Theilchen sind wieder zerlegbar in chemische
Atome, electrische Flüssigkeit und Lichtäther, Wesen, welche endlich den zer-
legenden Mitteln, über die die Wissenschaft heute gebietet, unbesiegbaren Wider-
stand leisten. Da wir aber die Bewegung nicht unmittelbar an den Muskelmolekeln, und
nicht einmal an der Muskelscheide, den Sehnen, dem Periost, sondern an dem Finger
beobachten, so ist mit obiger Betrachtung nur eine Seite unserer Erscheinung zer-
gliedert, nämlich diejenige, welche die Ursache der Bewegung überhaupt enthält.
Denn indem sich die Bewegung auf primäre und secundäre Scheide, Sehnen, Knochen
u. s. w. überträgt, erfährt sie Widerstände, die von der Steifigkeit, Elasticität, Form
u. s. w. dieser Theile abhängig sind; alle diese Erscheinungen sind aber selbst wieder
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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/15>, abgerufen am 25.11.2024.
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