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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Weitere Verbreitungsgesetze der Rückenmarksnerven.
und dann erst dürfte man Hoffnung haben, aus der Beobachtung zufällig eintretender
Verletzungen einzelner Nerven und Rückenmarkstheile eine vollkommene Einsicht in
die Vertheilung der Rückenmarksnerven des Menschen zu gewinnen. -- Eine solche
Reihe steht leider der Wissenschaft noch nicht zu Gebote.

Eine Zusammenstellung der bei verschiedenen Thieren gewonne-
nen Thatsachen über die Verbreitung der Rückenmarkswurzeln ergibt:

a. Die von einer Hälfte des Rückenmarks entspringenden Wur-
zeln versorgen nur Bestandtheile derselben Körperhälfte vorausge-
setzt, dass ihr Verbreitungsbezirk nicht in die Eingeweide fällt. --

b. Jede grosse räumlich oder functionell geschiedene Gruppe von
Bewegungsorganen erhält von einer begrenzten Abtheilung des Rük-
kenmarks ihre Nervenröhren, ohne Berücksichtigung ihrer relativen
Lage zum Rückenmark. Nach den bis dahin bekannten Beobachtungen
könnten in diesem Sinne die Nervenwurzeln in vier Gruppen ge-
bracht werden: a) Nerven der Wirbelsäule-, resp. der Rippen- und
Bauchmuskeln, insofern diese für die Bewegung der Wirbelsäule
benutzt werden; dieses System läuft durch das ganze Rückenmark
von oben bis unten, so dass sich sämmtliche Nervenwurzeln in einem
gewissen Umfangan ihm betheiligen. -- b) Einathmungsnerven, zu
diesem Gliede dürfte zum Theil der 3. bis 6. (7.?) Halsnerv gezählt
werden können; die Muskeln, welche versorgt werden, sind wenn
auch wenige (Mm. scaleni, sternomastoidei, Diaphragma) doch sehr
auseinander gelegte, so dass sie sich ziemlich scharf ausschei-
den; ob und welche andere zu dieser Abtheilung noch gehören möch-
ten, muss zu entscheiden späteren Untersuchungen überlassen blei-
ben. -- g) Nerven der obern Extremität, zu denen bekanntlich der
grösste Theil der Wurzeln für den plexus brachialis zählt und der mit
seinen Aesten ebenso wie die vorhergehende Gruppe tief an den
Rumpf heruntergreift, um die an den Bewegungen des Schultergerüstes
oder Armes betheiligten Muskeln zu versorgen. -- d) Nerven der Geh-
werkzeuge; ein grosser Theil der Wurzeln des plexus lumbalis und
sacralis. -- Ausser diesen Gruppen dürfte eine weitere Untersuchung
wahrscheinlich noch andere, die sich auf Bewegung des Kopfs, der
Zunge und des Kehlkopfs, der Muskeln zur Koth- und Harnentleerung
und endlich des Geschlechtsapparats beziehen, aufstellen.

c. Derselbe Muskel und dieselbe Hautstelle (oder überhaupt
empfindliche Fläche?) wird gleichzeitig von Röhren versorgt, welche
durch verschiedene Wurzeln aus dem Rückenmark austreten, und um-
gekehrt aus derselben Wurzel begeben sich an verschiedene (zu einer
grösseren Gruppe gehörige?) Muskeln und Hautstellen Nervenzweige
Eckhard.

Aus diesen Vertheilungsgesetzen, welche mit der höchsten Wahr-
scheinlichkeit als überall bestehende angesehen werden dürfen, er-
gibt sich die Nothwendigkeit und die Bedeutung der Plexusbildung

Weitere Verbreitungsgesetze der Rückenmarksnerven.
und dann erst dürfte man Hoffnung haben, aus der Beobachtung zufällig eintretender
Verletzungen einzelner Nerven und Rückenmarkstheile eine vollkommene Einsicht in
die Vertheilung der Rückenmarksnerven des Menschen zu gewinnen. — Eine solche
Reihe steht leider der Wissenschaft noch nicht zu Gebote.

Eine Zusammenstellung der bei verschiedenen Thieren gewonne-
nen Thatsachen über die Verbreitung der Rückenmarkswurzeln ergibt:

a. Die von einer Hälfte des Rückenmarks entspringenden Wur-
zeln versorgen nur Bestandtheile derselben Körperhälfte vorausge-
setzt, dass ihr Verbreitungsbezirk nicht in die Eingeweide fällt. —

b. Jede grosse räumlich oder functionell geschiedene Gruppe von
Bewegungsorganen erhält von einer begrenzten Abtheilung des Rük-
kenmarks ihre Nervenröhren, ohne Berücksichtigung ihrer relativen
Lage zum Rückenmark. Nach den bis dahin bekannten Beobachtungen
könnten in diesem Sinne die Nervenwurzeln in vier Gruppen ge-
bracht werden: α) Nerven der Wirbelsäule-, resp. der Rippen- und
Bauchmuskeln, insofern diese für die Bewegung der Wirbelsäule
benutzt werden; dieses System läuft durch das ganze Rückenmark
von oben bis unten, so dass sich sämmtliche Nervenwurzeln in einem
gewissen Umfangan ihm betheiligen. — β) Einathmungsnerven, zu
diesem Gliede dürfte zum Theil der 3. bis 6. (7.?) Halsnerv gezählt
werden können; die Muskeln, welche versorgt werden, sind wenn
auch wenige (Mm. scaleni, sternomastoidei, Diaphragma) doch sehr
auseinander gelegte, so dass sie sich ziemlich scharf ausschei-
den; ob und welche andere zu dieser Abtheilung noch gehören möch-
ten, muss zu entscheiden späteren Untersuchungen überlassen blei-
ben. — γ) Nerven der obern Extremität, zu denen bekanntlich der
grösste Theil der Wurzeln für den plexus brachialis zählt und der mit
seinen Aesten ebenso wie die vorhergehende Gruppe tief an den
Rumpf heruntergreift, um die an den Bewegungen des Schultergerüstes
oder Armes betheiligten Muskeln zu versorgen. — δ) Nerven der Geh-
werkzeuge; ein grosser Theil der Wurzeln des plexus lumbalis und
sacralis. — Ausser diesen Gruppen dürfte eine weitere Untersuchung
wahrscheinlich noch andere, die sich auf Bewegung des Kopfs, der
Zunge und des Kehlkopfs, der Muskeln zur Koth- und Harnentleerung
und endlich des Geschlechtsapparats beziehen, aufstellen.

c. Derselbe Muskel und dieselbe Hautstelle (oder überhaupt
empfindliche Fläche?) wird gleichzeitig von Röhren versorgt, welche
durch verschiedene Wurzeln aus dem Rückenmark austreten, und um-
gekehrt aus derselben Wurzel begeben sich an verschiedene (zu einer
grösseren Gruppe gehörige?) Muskeln und Hautstellen Nervenzweige
Eckhard.

Aus diesen Vertheilungsgesetzen, welche mit der höchsten Wahr-
scheinlichkeit als überall bestehende angesehen werden dürfen, er-
gibt sich die Nothwendigkeit und die Bedeutung der Plexusbildung

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[135/0149] Weitere Verbreitungsgesetze der Rückenmarksnerven. und dann erst dürfte man Hoffnung haben, aus der Beobachtung zufällig eintretender Verletzungen einzelner Nerven und Rückenmarkstheile eine vollkommene Einsicht in die Vertheilung der Rückenmarksnerven des Menschen zu gewinnen. — Eine solche Reihe steht leider der Wissenschaft noch nicht zu Gebote. Eine Zusammenstellung der bei verschiedenen Thieren gewonne- nen Thatsachen über die Verbreitung der Rückenmarkswurzeln ergibt: a. Die von einer Hälfte des Rückenmarks entspringenden Wur- zeln versorgen nur Bestandtheile derselben Körperhälfte vorausge- setzt, dass ihr Verbreitungsbezirk nicht in die Eingeweide fällt. — b. Jede grosse räumlich oder functionell geschiedene Gruppe von Bewegungsorganen erhält von einer begrenzten Abtheilung des Rük- kenmarks ihre Nervenröhren, ohne Berücksichtigung ihrer relativen Lage zum Rückenmark. Nach den bis dahin bekannten Beobachtungen könnten in diesem Sinne die Nervenwurzeln in vier Gruppen ge- bracht werden: α) Nerven der Wirbelsäule-, resp. der Rippen- und Bauchmuskeln, insofern diese für die Bewegung der Wirbelsäule benutzt werden; dieses System läuft durch das ganze Rückenmark von oben bis unten, so dass sich sämmtliche Nervenwurzeln in einem gewissen Umfangan ihm betheiligen. — β) Einathmungsnerven, zu diesem Gliede dürfte zum Theil der 3. bis 6. (7.?) Halsnerv gezählt werden können; die Muskeln, welche versorgt werden, sind wenn auch wenige (Mm. scaleni, sternomastoidei, Diaphragma) doch sehr auseinander gelegte, so dass sie sich ziemlich scharf ausschei- den; ob und welche andere zu dieser Abtheilung noch gehören möch- ten, muss zu entscheiden späteren Untersuchungen überlassen blei- ben. — γ) Nerven der obern Extremität, zu denen bekanntlich der grösste Theil der Wurzeln für den plexus brachialis zählt und der mit seinen Aesten ebenso wie die vorhergehende Gruppe tief an den Rumpf heruntergreift, um die an den Bewegungen des Schultergerüstes oder Armes betheiligten Muskeln zu versorgen. — δ) Nerven der Geh- werkzeuge; ein grosser Theil der Wurzeln des plexus lumbalis und sacralis. — Ausser diesen Gruppen dürfte eine weitere Untersuchung wahrscheinlich noch andere, die sich auf Bewegung des Kopfs, der Zunge und des Kehlkopfs, der Muskeln zur Koth- und Harnentleerung und endlich des Geschlechtsapparats beziehen, aufstellen. c. Derselbe Muskel und dieselbe Hautstelle (oder überhaupt empfindliche Fläche?) wird gleichzeitig von Röhren versorgt, welche durch verschiedene Wurzeln aus dem Rückenmark austreten, und um- gekehrt aus derselben Wurzel begeben sich an verschiedene (zu einer grösseren Gruppe gehörige?) Muskeln und Hautstellen Nervenzweige Eckhard. Aus diesen Vertheilungsgesetzen, welche mit der höchsten Wahr- scheinlichkeit als überall bestehende angesehen werden dürfen, er- gibt sich die Nothwendigkeit und die Bedeutung der Plexusbildung

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/149>, abgerufen am 24.11.2024.