gemacht, der sich selbst anspeien könnte; geschieht nicht morgen noch, was der Frohnweißblick geweissagt. Und nun steht er wieder an der Straßenecke und sieht wie¬ der hinauf und harrt und zählt verzweifelter als je, und badet sich in Angstschweiß, und die Breter brechen nicht, und das Tau reißt nicht. O er wird den Frohn¬ weißblick zum Märchen machen, er wird leben bleiben, das Jahr, zehn Jahr, hundert Jahr, aus Haß gegen ihn. Und er zählt immer noch Eins, Zwei; er sagt: nun muß -- da hört er das Geräusch eines zerreißen¬ den Tau's und fährt auf aus seinem wachen Fie¬ bertraum. Die wilde, angstvolle Freude ist vergeblich. Er steht nicht an der Ecke und sieht nach dem Kirchen¬ dache hinauf. Er sitzt im Schuppen. Es ist Nacht. Aber das Geräusch hat er gehört. Das war keine Vorspiegelung der Phantasie. Und von dort her kam's. Seine Haare stehn empor. Dort liegen die Häng¬ stühle und die Flaschenzüge mit ihren Tauen. Er hat hundertmal erzählen hören; jeder Schieferdecker weiß, was es sagen will, das vorspuckende Geräusch. Aber dreimal muß es klingen, als wenn ein Tau zerrisse; und er hat's erst einmal gehört. Er lauscht, er preßt die Faust auf das Herz. Vor seinen Schlägen, vor dem Brausen des Blutes die Adern hinauf und herab, wird er's nicht hören, wenn's noch einmal klingt und noch einmal. Er lauscht und lauscht und das Geräusch wiederholt sich nicht. Da fährt ein Gedanke wie ein
gemacht, der ſich ſelbſt anſpeien könnte; geſchieht nicht morgen noch, was der Frohnweißblick geweiſſagt. Und nun ſteht er wieder an der Straßenecke und ſieht wie¬ der hinauf und harrt und zählt verzweifelter als je, und badet ſich in Angſtſchweiß, und die Breter brechen nicht, und das Tau reißt nicht. O er wird den Frohn¬ weißblick zum Märchen machen, er wird leben bleiben, das Jahr, zehn Jahr, hundert Jahr, aus Haß gegen ihn. Und er zählt immer noch Eins, Zwei; er ſagt: nun muß — da hört er das Geräuſch eines zerreißen¬ den Tau's und fährt auf aus ſeinem wachen Fie¬ bertraum. Die wilde, angſtvolle Freude iſt vergeblich. Er ſteht nicht an der Ecke und ſieht nach dem Kirchen¬ dache hinauf. Er ſitzt im Schuppen. Es iſt Nacht. Aber das Geräuſch hat er gehört. Das war keine Vorſpiegelung der Phantaſie. Und von dort her kam's. Seine Haare ſtehn empor. Dort liegen die Häng¬ ſtühle und die Flaſchenzüge mit ihren Tauen. Er hat hundertmal erzählen hören; jeder Schieferdecker weiß, was es ſagen will, das vorſpuckende Geräuſch. Aber dreimal muß es klingen, als wenn ein Tau zerriſſe; und er hat's erſt einmal gehört. Er lauſcht, er preßt die Fauſt auf das Herz. Vor ſeinen Schlägen, vor dem Brauſen des Blutes die Adern hinauf und herab, wird er's nicht hören, wenn's noch einmal klingt und noch einmal. Er lauſcht und lauſcht und das Geräuſch wiederholt ſich nicht. Da fährt ein Gedanke wie ein
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morgen noch, was der Frohnweißblick geweiſſagt. Und
nun ſteht er wieder an der Straßenecke und ſieht wie¬
der hinauf und harrt und zählt verzweifelter als je,
und badet ſich in Angſtſchweiß, und die Breter brechen
nicht, und das Tau reißt nicht. O er wird den Frohn¬
weißblick zum Märchen machen, er wird leben bleiben,
das Jahr, zehn Jahr, hundert Jahr, aus Haß gegen
ihn. Und er zählt immer noch Eins, Zwei; er ſagt:
nun muß — da hört er das Geräuſch eines zerreißen¬
den Tau's und fährt auf aus ſeinem wachen Fie¬
bertraum. Die wilde, angſtvolle Freude iſt vergeblich.
Er ſteht nicht an der Ecke und ſieht nach dem Kirchen¬
dache hinauf. Er ſitzt im Schuppen. Es iſt Nacht.
Aber das Geräuſch hat er gehört. Das war keine
Vorſpiegelung der Phantaſie. Und von dort her kam's.
Seine Haare ſtehn empor. Dort liegen die Häng¬
ſtühle und die Flaſchenzüge mit ihren Tauen. Er hat
hundertmal erzählen hören; jeder Schieferdecker weiß,
was es ſagen will, das vorſpuckende Geräuſch. Aber
dreimal muß es klingen, als wenn ein Tau zerriſſe; und
er hat's erſt einmal gehört. Er lauſcht, er preßt die
Fauſt auf das Herz. Vor ſeinen Schlägen, vor dem
Brauſen des Blutes die Adern hinauf und herab, wird
er's nicht hören, wenn's noch einmal klingt und noch
einmal. Er lauſcht und lauſcht und das Geräuſch
wiederholt ſich nicht. Da fährt ein Gedanke wie ein
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/193>, abgerufen am 04.12.2024.
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