zwischen beiden Theilen, das dem ganzen Verkehr etwas rücksichtsvoll Förmliches beimischt. Das liegt wohl zum Theile in der schweigsamen Geschlossenheit des alten Herrn, die sich den übrigen Familiengliedern mit¬ getheilt hat, wie denn alle seine Eigenthümlichkeiten bis auf die unbedeutendsten Einzelnheiten, so in körper¬ licher Haltung und Bewegung, wie in Urtheil und Liebhaberei auf sie übergegangen erscheinen. Wird in dem Familienkreise weniger gesprochen, so scheint ein Aussprechen von Wünschen und Meinungen des Einen überflüssig, wo der Andere mit so sicherm Instinkt zu errathen weiß. Und wie soll das schwer sein, wo alle eigentlich ein und dasselbe Leben leben? Es ist ein eigenes Zusammenleben in dem Hause mit den grünen Fensterladen. Die Nachbarn wundern sich, daß der Herr Nettenmair die Schwägerin nicht geheirathet. Es ist nun dreißig Jahre her, daß ihr Mann, Herr Nettenmair's älterer Bruder, bei einer Reparatur am Kirchendache zu Sankt Georg verunglückte. Damals glaubte man allgemein, er werde des Bruders Wittwe heirathen. Sein damals noch lebender Vater wünschte das sogar und der Sohn selbst schien nicht abgeneigt. Man weiß nicht, was ihn abhielt. Aber es geschah nicht, wennschon Herr Nettenmair sich des Familien¬ wesens seines Bruders und der Kinder desselben väter¬ lich annahm, auch sich sonst nicht verheirathete, soviel
zwiſchen beiden Theilen, das dem ganzen Verkehr etwas rückſichtsvoll Förmliches beimiſcht. Das liegt wohl zum Theile in der ſchweigſamen Geſchloſſenheit des alten Herrn, die ſich den übrigen Familiengliedern mit¬ getheilt hat, wie denn alle ſeine Eigenthümlichkeiten bis auf die unbedeutendſten Einzelnheiten, ſo in körper¬ licher Haltung und Bewegung, wie in Urtheil und Liebhaberei auf ſie übergegangen erſcheinen. Wird in dem Familienkreiſe weniger geſprochen, ſo ſcheint ein Ausſprechen von Wünſchen und Meinungen des Einen überflüſſig, wo der Andere mit ſo ſicherm Inſtinkt zu errathen weiß. Und wie ſoll das ſchwer ſein, wo alle eigentlich ein und dasſelbe Leben leben? Es iſt ein eigenes Zuſammenleben in dem Hauſe mit den grünen Fenſterladen. Die Nachbarn wundern ſich, daß der Herr Nettenmair die Schwägerin nicht geheirathet. Es iſt nun dreißig Jahre her, daß ihr Mann, Herr Nettenmair's älterer Bruder, bei einer Reparatur am Kirchendache zu Sankt Georg verunglückte. Damals glaubte man allgemein, er werde des Bruders Wittwe heirathen. Sein damals noch lebender Vater wünſchte das ſogar und der Sohn ſelbſt ſchien nicht abgeneigt. Man weiß nicht, was ihn abhielt. Aber es geſchah nicht, wennſchon Herr Nettenmair ſich des Familien¬ weſens ſeines Bruders und der Kinder desſelben väter¬ lich annahm, auch ſich ſonſt nicht verheirathete, ſoviel
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zwiſchen beiden Theilen, das dem ganzen Verkehr etwas
rückſichtsvoll Förmliches beimiſcht. Das liegt wohl
zum Theile in der ſchweigſamen Geſchloſſenheit des
alten Herrn, die ſich den übrigen Familiengliedern mit¬
getheilt hat, wie denn alle ſeine Eigenthümlichkeiten
bis auf die unbedeutendſten Einzelnheiten, ſo in körper¬
licher Haltung und Bewegung, wie in Urtheil und
Liebhaberei auf ſie übergegangen erſcheinen. Wird in
dem Familienkreiſe weniger geſprochen, ſo ſcheint ein
Ausſprechen von Wünſchen und Meinungen des Einen
überflüſſig, wo der Andere mit ſo ſicherm Inſtinkt zu
errathen weiß. Und wie ſoll das ſchwer ſein, wo alle
eigentlich ein und dasſelbe Leben leben? Es iſt ein
eigenes Zuſammenleben in dem Hauſe mit den grünen
Fenſterladen. Die Nachbarn wundern ſich, daß der
Herr Nettenmair die Schwägerin nicht geheirathet.
Es iſt nun dreißig Jahre her, daß ihr Mann, Herr
Nettenmair's älterer Bruder, bei einer Reparatur
am Kirchendache zu Sankt Georg verunglückte. Damals
glaubte man allgemein, er werde des Bruders Wittwe
heirathen. Sein damals noch lebender Vater wünſchte
das ſogar und der Sohn ſelbſt ſchien nicht abgeneigt.
Man weiß nicht, was ihn abhielt. Aber es geſchah
nicht, wennſchon Herr Nettenmair ſich des Familien¬
weſens ſeines Bruders und der Kinder desſelben väter¬
lich annahm, auch ſich ſonſt nicht verheirathete, ſoviel
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/16>, abgerufen am 22.11.2024.
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