Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.uns in der Kehle stecken, das Pfeifen kommt nicht über die ersten Tacte hinaus, und unsere eignen Worte erschrecken uns durch ihren fremden Klang und die so nahe Körperlichkeit des Tones in der dunstig-nebelhaften Atmosphäre. Allmählich wird der helle Tag zur halben Nacht, der Donner beginnt in der Ferne dumpf und drohend aufzugrollen, und ein fahles Leuchten, wie der Widerschein von fernen Blitzen, durchzuckt von Zeit zu Zeit die dämmernde, schlaftrunkene Luft. Schwerer wird das Herz, beklemmter die Brust, schleppender der Schritt des einsamen Wanderers. Die Natur, sonst die liebliche Freundin des Menschen, steht mit einem Mal vor ihm da als starres, unheimliches Räthsel; es ist etwas Feindseliges getreten zwischen ihn und sie. Die Thiere des Waldes, deren Instinct sie die nahende Gefahr erkennen und ihr entfliehen lehrt, haben ihre Schlupfwinkel aufgesucht -- kein Lebendiges läßt sich blicken. Die Bäume, so freundlich sonst von Sonnenlichtern durchspielt, von singenden Vögeln belebt, nehmen in der Düsterheit gespenstisch-drohende Formen an -- geisterhaft im Hintergrunde stehen die bleichen Stämme -- Schatten scheinen an ihnen vorüber zu huschen, Gestalten sich dahinter zu verstecken -- wie mit weißen Armen greifen ihre Aeste aus der grünen Nacht heraus, um uns in sie hineinzuziehen. Wir meinen es athmen zu hören, bald vor, bald hinter uns, das unbekannte Etwas, den unsichtbaren Alp, den wir verzaubert schleppen müssen. Scheu blicken wir uns nach ihm um, und wenn wir dann durch uns in der Kehle stecken, das Pfeifen kommt nicht über die ersten Tacte hinaus, und unsere eignen Worte erschrecken uns durch ihren fremden Klang und die so nahe Körperlichkeit des Tones in der dunstig-nebelhaften Atmosphäre. Allmählich wird der helle Tag zur halben Nacht, der Donner beginnt in der Ferne dumpf und drohend aufzugrollen, und ein fahles Leuchten, wie der Widerschein von fernen Blitzen, durchzuckt von Zeit zu Zeit die dämmernde, schlaftrunkene Luft. Schwerer wird das Herz, beklemmter die Brust, schleppender der Schritt des einsamen Wanderers. Die Natur, sonst die liebliche Freundin des Menschen, steht mit einem Mal vor ihm da als starres, unheimliches Räthsel; es ist etwas Feindseliges getreten zwischen ihn und sie. Die Thiere des Waldes, deren Instinct sie die nahende Gefahr erkennen und ihr entfliehen lehrt, haben ihre Schlupfwinkel aufgesucht — kein Lebendiges läßt sich blicken. Die Bäume, so freundlich sonst von Sonnenlichtern durchspielt, von singenden Vögeln belebt, nehmen in der Düsterheit gespenstisch-drohende Formen an — geisterhaft im Hintergrunde stehen die bleichen Stämme — Schatten scheinen an ihnen vorüber zu huschen, Gestalten sich dahinter zu verstecken — wie mit weißen Armen greifen ihre Aeste aus der grünen Nacht heraus, um uns in sie hineinzuziehen. Wir meinen es athmen zu hören, bald vor, bald hinter uns, das unbekannte Etwas, den unsichtbaren Alp, den wir verzaubert schleppen müssen. Scheu blicken wir uns nach ihm um, und wenn wir dann durch <TEI> <text> <body> <div n="0"> <p><pb facs="#f0026"/> uns in der Kehle stecken, das Pfeifen kommt nicht über die ersten Tacte hinaus, und unsere eignen Worte erschrecken uns durch ihren fremden Klang und die so nahe Körperlichkeit des Tones in der dunstig-nebelhaften Atmosphäre. Allmählich wird der helle Tag zur halben Nacht, der Donner beginnt in der Ferne dumpf und drohend aufzugrollen, und ein fahles Leuchten, wie der Widerschein von fernen Blitzen, durchzuckt von Zeit zu Zeit die dämmernde, schlaftrunkene Luft. Schwerer wird das Herz, beklemmter die Brust, schleppender der Schritt des einsamen Wanderers. Die Natur, sonst die liebliche Freundin des Menschen, steht mit einem Mal vor ihm da als starres, unheimliches Räthsel; es ist etwas Feindseliges getreten zwischen ihn und sie. Die Thiere des Waldes, deren Instinct sie die nahende Gefahr erkennen und ihr entfliehen lehrt, haben ihre Schlupfwinkel aufgesucht — kein Lebendiges läßt sich blicken. Die Bäume, so freundlich sonst von Sonnenlichtern durchspielt, von singenden Vögeln belebt, nehmen in der Düsterheit gespenstisch-drohende Formen an — geisterhaft im Hintergrunde stehen die bleichen Stämme — Schatten scheinen an ihnen vorüber zu huschen, Gestalten sich dahinter zu verstecken — wie mit weißen Armen greifen ihre Aeste aus der grünen Nacht heraus, um uns in sie hineinzuziehen. Wir meinen es athmen zu hören, bald vor, bald hinter uns, das unbekannte Etwas, den unsichtbaren Alp, den wir verzaubert schleppen müssen. Scheu blicken wir uns nach ihm um, und wenn wir dann durch<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0026]
uns in der Kehle stecken, das Pfeifen kommt nicht über die ersten Tacte hinaus, und unsere eignen Worte erschrecken uns durch ihren fremden Klang und die so nahe Körperlichkeit des Tones in der dunstig-nebelhaften Atmosphäre. Allmählich wird der helle Tag zur halben Nacht, der Donner beginnt in der Ferne dumpf und drohend aufzugrollen, und ein fahles Leuchten, wie der Widerschein von fernen Blitzen, durchzuckt von Zeit zu Zeit die dämmernde, schlaftrunkene Luft. Schwerer wird das Herz, beklemmter die Brust, schleppender der Schritt des einsamen Wanderers. Die Natur, sonst die liebliche Freundin des Menschen, steht mit einem Mal vor ihm da als starres, unheimliches Räthsel; es ist etwas Feindseliges getreten zwischen ihn und sie. Die Thiere des Waldes, deren Instinct sie die nahende Gefahr erkennen und ihr entfliehen lehrt, haben ihre Schlupfwinkel aufgesucht — kein Lebendiges läßt sich blicken. Die Bäume, so freundlich sonst von Sonnenlichtern durchspielt, von singenden Vögeln belebt, nehmen in der Düsterheit gespenstisch-drohende Formen an — geisterhaft im Hintergrunde stehen die bleichen Stämme — Schatten scheinen an ihnen vorüber zu huschen, Gestalten sich dahinter zu verstecken — wie mit weißen Armen greifen ihre Aeste aus der grünen Nacht heraus, um uns in sie hineinzuziehen. Wir meinen es athmen zu hören, bald vor, bald hinter uns, das unbekannte Etwas, den unsichtbaren Alp, den wir verzaubert schleppen müssen. Scheu blicken wir uns nach ihm um, und wenn wir dann durch
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_gericht_1910 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_gericht_1910/26 |
Zitationshilfe: | Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_gericht_1910/26>, abgerufen am 27.07.2024. |