Unsere solidesten Gebäude aus den alten Zeiten, die sprüchwörtlich als Symbole, als Beispiele einer unwandelbaren Festigkeit gelten, werden täglich, ja stündlich von der Wärme in immerwährende Bewegung gesetzt. Seit den Versuchen, die man mit den höchst empfindlichen Libellen Reichenbachs an der Sternwarte Brera zu Mailand angestellt hat, ist es bekannt, daß jeder Thurm und jedes Haus, wenn es auf seiner Ost- oder Westseite von der Sonne beschienen wird, gleich einem Pendel hin und wieder geht, ohne auch nur zwei Augenblicke dieselbe Lage beizubehalten.
Aber welche noch viel größere Rolle ist dieser unsichtbaren Macht in unserer Chemie angewiesen worden. Unauflöslich schei- nende Körper trennt sie in ihre Elemente; die heterogensten Mas- sen schmilzt sie zu einem gemeinsamen, einförmigen Körper; sie weckt seit Jahrtausenden schlafende Affinitäten aus ihrem Schlum- mer zu neuer Thätigkeit, und sie zerreißt selbst die Bande der chemischen Attraction, die jeder andern uns bekannten Kraft spot- tend widerstehen. Durch Bindung und Freiwerden der Wärme entstehen alle unsere Compositionen und Decompositionen der na- türlichen Körper, und diese zwei Prozesse sind es, durch die wir mit der einen Hand fürchterliche Detonationen mit einer alles schnell verzehrenden Hitze, und mit der andern eine Kälte erzeu- gen können, gegen welche die unserer Pole noch Wärme heißen kann.
§. 22. (Wärme in Beziehung auf das gemeine Leben.) Aber wozu erst Sternwarten oder Laboratorien aufsuchen, um Bei- spiele für die Thätigkeit einer Kraft zu finden, die uns überall und zu allen Seiten in der Nähe umgibt. Im Schlafe und im Wachen, zu Hause oder auf dem Felde, bei Tag und Nacht, in der heißen und in der kalten Zone -- überall ist sie, überall wirkt sie und überall sind wir ihre Sklaven zugleich und ihre Meister.
Wir sind ihre Sklaven. -- Denn ohne sie vermögen wir nicht einen Augenblick zu leben, und ohne ein genau bestimmtes Maaß derselben können wir dieses Leben eben so wenig in Frie- den genießen. Sie herrscht gebieterisch über unsere Freuden und über unsere Leiden. Sie legt uns auf das Siechenbette hin, und hilft uns wieder von demselben auf. Sie ist unsere Krankheit und
Die Sonne.
Unſere ſolideſten Gebäude aus den alten Zeiten, die ſprüchwörtlich als Symbole, als Beiſpiele einer unwandelbaren Feſtigkeit gelten, werden täglich, ja ſtündlich von der Wärme in immerwährende Bewegung geſetzt. Seit den Verſuchen, die man mit den höchſt empfindlichen Libellen Reichenbachs an der Sternwarte Brera zu Mailand angeſtellt hat, iſt es bekannt, daß jeder Thurm und jedes Haus, wenn es auf ſeiner Oſt- oder Weſtſeite von der Sonne beſchienen wird, gleich einem Pendel hin und wieder geht, ohne auch nur zwei Augenblicke dieſelbe Lage beizubehalten.
Aber welche noch viel größere Rolle iſt dieſer unſichtbaren Macht in unſerer Chemie angewieſen worden. Unauflöslich ſchei- nende Körper trennt ſie in ihre Elemente; die heterogenſten Maſ- ſen ſchmilzt ſie zu einem gemeinſamen, einförmigen Körper; ſie weckt ſeit Jahrtauſenden ſchlafende Affinitäten aus ihrem Schlum- mer zu neuer Thätigkeit, und ſie zerreißt ſelbſt die Bande der chemiſchen Attraction, die jeder andern uns bekannten Kraft ſpot- tend widerſtehen. Durch Bindung und Freiwerden der Wärme entſtehen alle unſere Compoſitionen und Decompoſitionen der na- türlichen Körper, und dieſe zwei Prozeſſe ſind es, durch die wir mit der einen Hand fürchterliche Detonationen mit einer alles ſchnell verzehrenden Hitze, und mit der andern eine Kälte erzeu- gen können, gegen welche die unſerer Pole noch Wärme heißen kann.
§. 22. (Wärme in Beziehung auf das gemeine Leben.) Aber wozu erſt Sternwarten oder Laboratorien aufſuchen, um Bei- ſpiele für die Thätigkeit einer Kraft zu finden, die uns überall und zu allen Seiten in der Nähe umgibt. Im Schlafe und im Wachen, zu Hauſe oder auf dem Felde, bei Tag und Nacht, in der heißen und in der kalten Zone — überall iſt ſie, überall wirkt ſie und überall ſind wir ihre Sklaven zugleich und ihre Meiſter.
Wir ſind ihre Sklaven. — Denn ohne ſie vermögen wir nicht einen Augenblick zu leben, und ohne ein genau beſtimmtes Maaß derſelben können wir dieſes Leben eben ſo wenig in Frie- den genießen. Sie herrſcht gebieteriſch über unſere Freuden und über unſere Leiden. Sie legt uns auf das Siechenbette hin, und hilft uns wieder von demſelben auf. Sie iſt unſere Krankheit und
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Die Sonne.
Unſere ſolideſten Gebäude aus den alten Zeiten, die ſprüchwörtlich
als Symbole, als Beiſpiele einer unwandelbaren Feſtigkeit gelten,
werden täglich, ja ſtündlich von der Wärme in immerwährende
Bewegung geſetzt. Seit den Verſuchen, die man mit den höchſt
empfindlichen Libellen Reichenbachs an der Sternwarte Brera zu
Mailand angeſtellt hat, iſt es bekannt, daß jeder Thurm und jedes
Haus, wenn es auf ſeiner Oſt- oder Weſtſeite von der Sonne
beſchienen wird, gleich einem Pendel hin und wieder geht, ohne
auch nur zwei Augenblicke dieſelbe Lage beizubehalten.
Aber welche noch viel größere Rolle iſt dieſer unſichtbaren
Macht in unſerer Chemie angewieſen worden. Unauflöslich ſchei-
nende Körper trennt ſie in ihre Elemente; die heterogenſten Maſ-
ſen ſchmilzt ſie zu einem gemeinſamen, einförmigen Körper; ſie
weckt ſeit Jahrtauſenden ſchlafende Affinitäten aus ihrem Schlum-
mer zu neuer Thätigkeit, und ſie zerreißt ſelbſt die Bande der
chemiſchen Attraction, die jeder andern uns bekannten Kraft ſpot-
tend widerſtehen. Durch Bindung und Freiwerden der Wärme
entſtehen alle unſere Compoſitionen und Decompoſitionen der na-
türlichen Körper, und dieſe zwei Prozeſſe ſind es, durch die wir
mit der einen Hand fürchterliche Detonationen mit einer alles
ſchnell verzehrenden Hitze, und mit der andern eine Kälte erzeu-
gen können, gegen welche die unſerer Pole noch Wärme heißen
kann.
§. 22. (Wärme in Beziehung auf das gemeine Leben.) Aber
wozu erſt Sternwarten oder Laboratorien aufſuchen, um Bei-
ſpiele für die Thätigkeit einer Kraft zu finden, die uns überall
und zu allen Seiten in der Nähe umgibt. Im Schlafe und im
Wachen, zu Hauſe oder auf dem Felde, bei Tag und Nacht, in
der heißen und in der kalten Zone — überall iſt ſie, überall
wirkt ſie und überall ſind wir ihre Sklaven zugleich und ihre
Meiſter.
Wir ſind ihre Sklaven. — Denn ohne ſie vermögen wir nicht
einen Augenblick zu leben, und ohne ein genau beſtimmtes
Maaß derſelben können wir dieſes Leben eben ſo wenig in Frie-
den genießen. Sie herrſcht gebieteriſch über unſere Freuden und
über unſere Leiden. Sie legt uns auf das Siechenbette hin, und
hilft uns wieder von demſelben auf. Sie iſt unſere Krankheit und
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Littrow, Joseph Johann von: Die Wunder des Himmels, oder gemeinfaßliche Darstellung des Weltsystems. Bd. 2. Stuttgart, 1835, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/littrow_weltsystem02_1835/40>, abgerufen am 16.07.2024.
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