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Littrow, Joseph Johann von: Die Wunder des Himmels, oder gemeinfaßliche Darstellung des Weltsystems. Bd. 1. Stuttgart, 1834.

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Refraction, Präcession und Nutation.

Laplace glaubt, daß die Bezeichnung und Benennung der
Sternbilder des Thierkreises zu einer Zeit erfunden worden sey,
wo der Steinbock, den man immer nur auf den höchsten Spitzen
der Felsen erblickte, auch den höchsten Punkt der Ecliptik über
dem Aequator eingenommen habe. In unseren Tagen ist er aber
schon nahe 30 Grade über dem tiefsten Punkt der Ecliptik vorge-
rückt. Dann würde die Waage sehr zweckmäßig in die Frühlings-
nachtgleiche gekommen seyn und die meisten der übrigen Stern-
bilder des Thierkreises würden eine auffallende Verbindung mit
der Agricultur und dem Klima von Aegypten zeigen. Die
Differenz der Länge von 210 Graden, welche diese Annahme vor-
aussetzt, wird von der jährlichen Präcession erst in 15050 Jahren
beschrieben und dadurch würde die Erfindung der Namen des
Thierkreises über dreizehntausend Jahre vor dem Anfang unserer
Zeitrechnung zurückfallen. Allein mit dieser Hypothese scheint un-
sere ganze Menschengeschichte in direktem Widerspruche zu seyn,
daher sie, die weder auf einer bestimmten Nachricht, noch auf ei-
ner Beobachtung, sondern nur auf einer bloßen Meinung beruht,
nicht zugelassen werden kann.

Die Ruinen der alten Stadt Tentyris (Denderah) in Ober-
ägypten zeichnen sich durch einen großen Tempel aus, den uns
die Zeit ohne beträchtliche Zerstörungen erhalten hat. An dem
Plafond des Porticus dieses Tempels sieht man die zwölf Figuren
des Thierkreises in der Ordnung, in welcher sie von der Sonne
durchlaufen werden. Dieser Thierkreis ist in den letzten Jahren
nach Paris gebracht und daselbst aufgestellt worden, wo er bald
der Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit wurde. An der
Spitze der Reihe dieser Figuren erblickt man das Sternbild des
Löwen, der zuerst aus dem Thore des Tempels zu treten scheint.
Man wollte daraus den Schluß ziehen, daß zur Zeit der Er-
richtung dieses Thierkreises die Sonne im Anfange des Jahres
in diesem Zeichen gewesen sey. Das Ruraljahr der alten Aegyp-
tier begann aber mit dem Sommersolstitium, zu welcher Zeit der
Nil austritt. Nimmt man also, aus Mangel an näheren Nach-
richten, die Mitte des Löwen für denjenigen Punkt an, in dem
die Sonne im Anfange jenes Jahres war, so war das Solstitium
zu jener Zeit volle 60 Grade weiter östlich, als es jetzt ist und

Refraction, Präceſſion und Nutation.

Laplace glaubt, daß die Bezeichnung und Benennung der
Sternbilder des Thierkreiſes zu einer Zeit erfunden worden ſey,
wo der Steinbock, den man immer nur auf den höchſten Spitzen
der Felſen erblickte, auch den höchſten Punkt der Ecliptik über
dem Aequator eingenommen habe. In unſeren Tagen iſt er aber
ſchon nahe 30 Grade über dem tiefſten Punkt der Ecliptik vorge-
rückt. Dann würde die Waage ſehr zweckmäßig in die Frühlings-
nachtgleiche gekommen ſeyn und die meiſten der übrigen Stern-
bilder des Thierkreiſes würden eine auffallende Verbindung mit
der Agricultur und dem Klima von Aegypten zeigen. Die
Differenz der Länge von 210 Graden, welche dieſe Annahme vor-
ausſetzt, wird von der jährlichen Präceſſion erſt in 15050 Jahren
beſchrieben und dadurch würde die Erfindung der Namen des
Thierkreiſes über dreizehntauſend Jahre vor dem Anfang unſerer
Zeitrechnung zurückfallen. Allein mit dieſer Hypotheſe ſcheint un-
ſere ganze Menſchengeſchichte in direktem Widerſpruche zu ſeyn,
daher ſie, die weder auf einer beſtimmten Nachricht, noch auf ei-
ner Beobachtung, ſondern nur auf einer bloßen Meinung beruht,
nicht zugelaſſen werden kann.

Die Ruinen der alten Stadt Tentyris (Denderah) in Ober-
ägypten zeichnen ſich durch einen großen Tempel aus, den uns
die Zeit ohne beträchtliche Zerſtörungen erhalten hat. An dem
Plafond des Porticus dieſes Tempels ſieht man die zwölf Figuren
des Thierkreiſes in der Ordnung, in welcher ſie von der Sonne
durchlaufen werden. Dieſer Thierkreis iſt in den letzten Jahren
nach Paris gebracht und daſelbſt aufgeſtellt worden, wo er bald
der Gegenſtand der allgemeinen Aufmerkſamkeit wurde. An der
Spitze der Reihe dieſer Figuren erblickt man das Sternbild des
Löwen, der zuerſt aus dem Thore des Tempels zu treten ſcheint.
Man wollte daraus den Schluß ziehen, daß zur Zeit der Er-
richtung dieſes Thierkreiſes die Sonne im Anfange des Jahres
in dieſem Zeichen geweſen ſey. Das Ruraljahr der alten Aegyp-
tier begann aber mit dem Sommerſolſtitium, zu welcher Zeit der
Nil austritt. Nimmt man alſo, aus Mangel an näheren Nach-
richten, die Mitte des Löwen für denjenigen Punkt an, in dem
die Sonne im Anfange jenes Jahres war, ſo war das Solſtitium
zu jener Zeit volle 60 Grade weiter öſtlich, als es jetzt iſt und

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[360/0372] Refraction, Präceſſion und Nutation. Laplace glaubt, daß die Bezeichnung und Benennung der Sternbilder des Thierkreiſes zu einer Zeit erfunden worden ſey, wo der Steinbock, den man immer nur auf den höchſten Spitzen der Felſen erblickte, auch den höchſten Punkt der Ecliptik über dem Aequator eingenommen habe. In unſeren Tagen iſt er aber ſchon nahe 30 Grade über dem tiefſten Punkt der Ecliptik vorge- rückt. Dann würde die Waage ſehr zweckmäßig in die Frühlings- nachtgleiche gekommen ſeyn und die meiſten der übrigen Stern- bilder des Thierkreiſes würden eine auffallende Verbindung mit der Agricultur und dem Klima von Aegypten zeigen. Die Differenz der Länge von 210 Graden, welche dieſe Annahme vor- ausſetzt, wird von der jährlichen Präceſſion erſt in 15050 Jahren beſchrieben und dadurch würde die Erfindung der Namen des Thierkreiſes über dreizehntauſend Jahre vor dem Anfang unſerer Zeitrechnung zurückfallen. Allein mit dieſer Hypotheſe ſcheint un- ſere ganze Menſchengeſchichte in direktem Widerſpruche zu ſeyn, daher ſie, die weder auf einer beſtimmten Nachricht, noch auf ei- ner Beobachtung, ſondern nur auf einer bloßen Meinung beruht, nicht zugelaſſen werden kann. Die Ruinen der alten Stadt Tentyris (Denderah) in Ober- ägypten zeichnen ſich durch einen großen Tempel aus, den uns die Zeit ohne beträchtliche Zerſtörungen erhalten hat. An dem Plafond des Porticus dieſes Tempels ſieht man die zwölf Figuren des Thierkreiſes in der Ordnung, in welcher ſie von der Sonne durchlaufen werden. Dieſer Thierkreis iſt in den letzten Jahren nach Paris gebracht und daſelbſt aufgeſtellt worden, wo er bald der Gegenſtand der allgemeinen Aufmerkſamkeit wurde. An der Spitze der Reihe dieſer Figuren erblickt man das Sternbild des Löwen, der zuerſt aus dem Thore des Tempels zu treten ſcheint. Man wollte daraus den Schluß ziehen, daß zur Zeit der Er- richtung dieſes Thierkreiſes die Sonne im Anfange des Jahres in dieſem Zeichen geweſen ſey. Das Ruraljahr der alten Aegyp- tier begann aber mit dem Sommerſolſtitium, zu welcher Zeit der Nil austritt. Nimmt man alſo, aus Mangel an näheren Nach- richten, die Mitte des Löwen für denjenigen Punkt an, in dem die Sonne im Anfange jenes Jahres war, ſo war das Solſtitium zu jener Zeit volle 60 Grade weiter öſtlich, als es jetzt iſt und

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Zitationshilfe: Littrow, Joseph Johann von: Die Wunder des Himmels, oder gemeinfaßliche Darstellung des Weltsystems. Bd. 1. Stuttgart, 1834, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/littrow_weltsystem01_1834/372>, abgerufen am 29.03.2024.