Aequator parallel, oder bildet sie mit dem Aequator irgend einen Winkel, und welchen?
§. 40. (Die Sonnenbahn ist gegen den Aequator geneigt). Wenn diese Bahn der Aequator selbst oder doch ihm parallel wäre, so müßte die Sonne für jeden bestimmten Ort der Erde, z. B. für Wien, durch das ganze Jahr offenbar immer an dem- selben Punkte des Horizonts, etwa immer bei derselben Bergspitze, auf- und untergehen, wie wir dieß bei den Fixsternen in ihrer täglichen Bewegung bemerken. Beschriebe sie z. B. den Parallel- kreis des Aldebarans am Himmel, so müßte sie auch alle Tage des Jahrs in demjenigen Orte des Horizonts auf- und untergehen, in welchem wir diesen Fixstern, und eben so alle andern Punkte seines Parallelkreises, auf- und untergehen sehen. Auch müßte dann ihre Sichtbarkeit über unserm Horizont, d. h. die Länge des Tages, während des ganzen Jahres immer gleich groß, nämlich dieselbe mit der Sichtbarkeit des Aldebarans selbst seyn. Allein dieß widerspricht allen unsern Erfahrungen. Die Längen unserer Tage sind, wie wir Alle wissen, sehr ungleich, da sie z. B. für Wien im Winter, wenn sie am kürzesten sind, nur 8 St. 10 M., und im Sommer, wenn sie am längsten sind, 16 St. 6 M. dauern. Auch geht, wie nicht weniger allgemein bekannt ist, die Sonne im Sommer sehr viel näher bei Norden auf und unter, als im Winter, wie sie denn auch in jener Jahreszeit im Mittag viel höher steht, als in dieser. Die beiden äußersten Punkte des Horizonts, bei welchen die Sonne im Sommer und im Winter auf- und untergeht, bilden in unsern Gegenden den sehr beträcht- lichen Winkel von 73 Graden, und dieser Winkel ist für nördlicher liegende Länder noch viel größer. Eine nur geringe Aufmerksam- keit auf diese so auffallenden Unterschiede mußte daher auf die Idee leiten, daß die Sonne in ihrer eigenen Bewegung von West gegen Ost auch zugleich von einem Parallelkreise zum andern übergeht, daß sie jeden Tag den Parallelkreis desjenigen Sterns beschreibt, in dessen Nähe sie sich an diesem Tage eben aufhält, und daß also auch die Bahn, welche sie während des ganzen Jahres zurücklegt, gegen alle jene Parallelkreise unter einem ge- wissen Winkel geneigt ist, so daß alle diese Parallelkreise von der Sonnenbahn unter diesem Winkel geschnitten werden.
Jährliche Bewegung der Sonne.
Aequator parallel, oder bildet ſie mit dem Aequator irgend einen Winkel, und welchen?
§. 40. (Die Sonnenbahn iſt gegen den Aequator geneigt). Wenn dieſe Bahn der Aequator ſelbſt oder doch ihm parallel wäre, ſo müßte die Sonne für jeden beſtimmten Ort der Erde, z. B. für Wien, durch das ganze Jahr offenbar immer an dem- ſelben Punkte des Horizonts, etwa immer bei derſelben Bergſpitze, auf- und untergehen, wie wir dieß bei den Fixſternen in ihrer täglichen Bewegung bemerken. Beſchriebe ſie z. B. den Parallel- kreis des Aldebarans am Himmel, ſo müßte ſie auch alle Tage des Jahrs in demjenigen Orte des Horizonts auf- und untergehen, in welchem wir dieſen Fixſtern, und eben ſo alle andern Punkte ſeines Parallelkreiſes, auf- und untergehen ſehen. Auch müßte dann ihre Sichtbarkeit über unſerm Horizont, d. h. die Länge des Tages, während des ganzen Jahres immer gleich groß, nämlich dieſelbe mit der Sichtbarkeit des Aldebarans ſelbſt ſeyn. Allein dieß widerſpricht allen unſern Erfahrungen. Die Längen unſerer Tage ſind, wie wir Alle wiſſen, ſehr ungleich, da ſie z. B. für Wien im Winter, wenn ſie am kürzeſten ſind, nur 8 St. 10 M., und im Sommer, wenn ſie am längſten ſind, 16 St. 6 M. dauern. Auch geht, wie nicht weniger allgemein bekannt iſt, die Sonne im Sommer ſehr viel näher bei Norden auf und unter, als im Winter, wie ſie denn auch in jener Jahreszeit im Mittag viel höher ſteht, als in dieſer. Die beiden äußerſten Punkte des Horizonts, bei welchen die Sonne im Sommer und im Winter auf- und untergeht, bilden in unſern Gegenden den ſehr beträcht- lichen Winkel von 73 Graden, und dieſer Winkel iſt für nördlicher liegende Länder noch viel größer. Eine nur geringe Aufmerkſam- keit auf dieſe ſo auffallenden Unterſchiede mußte daher auf die Idee leiten, daß die Sonne in ihrer eigenen Bewegung von Weſt gegen Oſt auch zugleich von einem Parallelkreiſe zum andern übergeht, daß ſie jeden Tag den Parallelkreis desjenigen Sterns beſchreibt, in deſſen Nähe ſie ſich an dieſem Tage eben aufhält, und daß alſo auch die Bahn, welche ſie während des ganzen Jahres zurücklegt, gegen alle jene Parallelkreiſe unter einem ge- wiſſen Winkel geneigt iſt, ſo daß alle dieſe Parallelkreiſe von der Sonnenbahn unter dieſem Winkel geſchnitten werden.
<TEI><text><body><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0112"n="100"/><fwplace="top"type="header">Jährliche Bewegung der Sonne.</fw><lb/>
Aequator parallel, oder bildet ſie mit dem Aequator irgend einen<lb/>
Winkel, und welchen?</p><lb/><p>§. 40. (Die Sonnenbahn iſt gegen den Aequator geneigt).<lb/>
Wenn dieſe Bahn der Aequator ſelbſt oder doch ihm parallel<lb/>
wäre, ſo müßte die Sonne für jeden beſtimmten Ort der Erde,<lb/>
z. B. für Wien, durch das ganze Jahr offenbar immer an dem-<lb/>ſelben Punkte des Horizonts, etwa immer bei derſelben Bergſpitze,<lb/>
auf- und untergehen, wie wir dieß bei den Fixſternen in ihrer<lb/>
täglichen Bewegung bemerken. Beſchriebe ſie z. B. den Parallel-<lb/>
kreis des Aldebarans am Himmel, ſo müßte ſie auch alle Tage<lb/>
des Jahrs in demjenigen Orte des Horizonts auf- und untergehen,<lb/>
in welchem wir dieſen Fixſtern, und eben ſo alle andern Punkte<lb/>ſeines Parallelkreiſes, auf- und untergehen ſehen. Auch müßte<lb/>
dann ihre Sichtbarkeit über unſerm Horizont, d. h. die Länge des<lb/>
Tages, während des ganzen Jahres immer gleich groß, nämlich<lb/>
dieſelbe mit der Sichtbarkeit des Aldebarans ſelbſt ſeyn. Allein<lb/>
dieß widerſpricht allen unſern Erfahrungen. Die Längen unſerer<lb/>
Tage ſind, wie wir Alle wiſſen, ſehr ungleich, da ſie z. B. für<lb/>
Wien im Winter, wenn ſie am kürzeſten ſind, nur 8 St. 10 M.,<lb/>
und im Sommer, wenn ſie am längſten ſind, 16 St. 6 M.<lb/>
dauern. Auch geht, wie nicht weniger allgemein bekannt iſt, die<lb/>
Sonne im Sommer ſehr viel näher bei Norden auf und unter,<lb/>
als im Winter, wie ſie denn auch in jener Jahreszeit im Mittag<lb/>
viel höher ſteht, als in dieſer. Die beiden äußerſten Punkte des<lb/>
Horizonts, bei welchen die Sonne im Sommer und im Winter<lb/>
auf- und untergeht, bilden in unſern Gegenden den ſehr beträcht-<lb/>
lichen Winkel von 73 Graden, und dieſer Winkel iſt für nördlicher<lb/>
liegende Länder noch viel größer. Eine nur geringe Aufmerkſam-<lb/>
keit auf dieſe ſo auffallenden Unterſchiede mußte daher auf die<lb/>
Idee leiten, daß die Sonne in ihrer eigenen Bewegung von Weſt<lb/>
gegen Oſt auch zugleich von einem Parallelkreiſe zum andern<lb/>
übergeht, daß ſie jeden Tag den Parallelkreis desjenigen Sterns<lb/>
beſchreibt, in deſſen Nähe ſie ſich an dieſem Tage eben aufhält,<lb/>
und daß alſo auch die Bahn, welche ſie während des ganzen<lb/>
Jahres zurücklegt, gegen alle jene Parallelkreiſe unter einem ge-<lb/>
wiſſen Winkel geneigt iſt, ſo daß alle dieſe Parallelkreiſe von der<lb/>
Sonnenbahn unter dieſem Winkel geſchnitten werden.</p><lb/></div></div></body></text></TEI>
[100/0112]
Jährliche Bewegung der Sonne.
Aequator parallel, oder bildet ſie mit dem Aequator irgend einen
Winkel, und welchen?
§. 40. (Die Sonnenbahn iſt gegen den Aequator geneigt).
Wenn dieſe Bahn der Aequator ſelbſt oder doch ihm parallel
wäre, ſo müßte die Sonne für jeden beſtimmten Ort der Erde,
z. B. für Wien, durch das ganze Jahr offenbar immer an dem-
ſelben Punkte des Horizonts, etwa immer bei derſelben Bergſpitze,
auf- und untergehen, wie wir dieß bei den Fixſternen in ihrer
täglichen Bewegung bemerken. Beſchriebe ſie z. B. den Parallel-
kreis des Aldebarans am Himmel, ſo müßte ſie auch alle Tage
des Jahrs in demjenigen Orte des Horizonts auf- und untergehen,
in welchem wir dieſen Fixſtern, und eben ſo alle andern Punkte
ſeines Parallelkreiſes, auf- und untergehen ſehen. Auch müßte
dann ihre Sichtbarkeit über unſerm Horizont, d. h. die Länge des
Tages, während des ganzen Jahres immer gleich groß, nämlich
dieſelbe mit der Sichtbarkeit des Aldebarans ſelbſt ſeyn. Allein
dieß widerſpricht allen unſern Erfahrungen. Die Längen unſerer
Tage ſind, wie wir Alle wiſſen, ſehr ungleich, da ſie z. B. für
Wien im Winter, wenn ſie am kürzeſten ſind, nur 8 St. 10 M.,
und im Sommer, wenn ſie am längſten ſind, 16 St. 6 M.
dauern. Auch geht, wie nicht weniger allgemein bekannt iſt, die
Sonne im Sommer ſehr viel näher bei Norden auf und unter,
als im Winter, wie ſie denn auch in jener Jahreszeit im Mittag
viel höher ſteht, als in dieſer. Die beiden äußerſten Punkte des
Horizonts, bei welchen die Sonne im Sommer und im Winter
auf- und untergeht, bilden in unſern Gegenden den ſehr beträcht-
lichen Winkel von 73 Graden, und dieſer Winkel iſt für nördlicher
liegende Länder noch viel größer. Eine nur geringe Aufmerkſam-
keit auf dieſe ſo auffallenden Unterſchiede mußte daher auf die
Idee leiten, daß die Sonne in ihrer eigenen Bewegung von Weſt
gegen Oſt auch zugleich von einem Parallelkreiſe zum andern
übergeht, daß ſie jeden Tag den Parallelkreis desjenigen Sterns
beſchreibt, in deſſen Nähe ſie ſich an dieſem Tage eben aufhält,
und daß alſo auch die Bahn, welche ſie während des ganzen
Jahres zurücklegt, gegen alle jene Parallelkreiſe unter einem ge-
wiſſen Winkel geneigt iſt, ſo daß alle dieſe Parallelkreiſe von der
Sonnenbahn unter dieſem Winkel geſchnitten werden.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Littrow, Joseph Johann von: Die Wunder des Himmels, oder gemeinfaßliche Darstellung des Weltsystems. Bd. 1. Stuttgart, 1834, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/littrow_weltsystem01_1834/112>, abgerufen am 28.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.