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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

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§ 6. Die souveräne Staatsgewalt.

Die dauernde Neutralisierung unabhängiger Staaten findet sich
erst seit dem Anfang dieses Jahrhunderts.

Morand, R. G. I 522.

Sie verfolgt den Zweck, den neutralisierten Staat im allge-
meinen Interesse vor den Einverleibungsgelüsten der benachbarten
Staaten sicherzustellen. In diesem Sinne kann man den neu-
tralisierten Staat auch als "Pufferstaat" (Etat tampon nach dem
von Thiers eingeführten Ausdruck) bezeichnen. Diese Sicherung
kann aber nur dann als hinreichend angesehen werden, wenn die
interessierten Staaten sich verpflichten, die Integrität des Gebietes
des neutralisierten Staates zu schützen und, wenn nötig, mit Waffen-
gewalt zu verteidigen: Garantierung der Neutralität, meist als Kol-
lektivgarantie (unten § 22 II). Gerade deshalb muss aber auch ange-
nommen werden, dass auch ohne besondere Vereinbarung jede Gebiets-
veränderung, sei es durch Vergrösserung, sei es durch Verkleinerung,
ohne Zustimmung der garantierenden Mächte ausgeschlossen ist.

R. G. I 417; Fauchille, R. G. II 427.

Die dauernde Neutralität, mag sie mit dritten Mächten ver-
einbart, oder durch diese auferlegt sein, bindet aber auch den
neutralisierten Staat insoweit, als er nicht nur andere Kriege als
zur Verteidigung seines Gebietes nicht führen, sondern auch im
Frieden keine Verträge schliessen darf, die ihn (wie Bündnisse
oder Garantieverträge) zur Kriegführung verpflichten könnten.
Jedoch ist die von ihm vorgenommene Kriegserklärung nicht
etwa nichtig, sondern sie hat alle die Rechtswirkungen, die durch
die Kriegserklärung von seiten eines nicht neutralisierten Staates
erzeugt werden (unten § 39 III). Wohl aber befreit sie die garan-
tierenden Staaten von der durch diese übernommenen Verpflichtung
und berechtigt sie zum Einschreiten gegen den neutralisierten Staat.

Da Gebietserwerbungen, insbesondere auch die Erwerbung
von Kolonieen einen Staat sehr leicht in kriegerische Verwicklungen
hineinziehen können, muss auch aus diesem Grunde dem dauernd
neutralisierten Staat das Recht zu Gebietserwerbungen versagt
werden.


§ 6. Die souveräne Staatsgewalt.

Die dauernde Neutralisierung unabhängiger Staaten findet sich
erst seit dem Anfang dieses Jahrhunderts.

Morand, R. G. I 522.

Sie verfolgt den Zweck, den neutralisierten Staat im allge-
meinen Interesse vor den Einverleibungsgelüsten der benachbarten
Staaten sicherzustellen. In diesem Sinne kann man den neu-
tralisierten Staat auch als „Pufferstaat“ (Etat tampon nach dem
von Thiers eingeführten Ausdruck) bezeichnen. Diese Sicherung
kann aber nur dann als hinreichend angesehen werden, wenn die
interessierten Staaten sich verpflichten, die Integrität des Gebietes
des neutralisierten Staates zu schützen und, wenn nötig, mit Waffen-
gewalt zu verteidigen: Garantierung der Neutralität, meist als Kol-
lektivgarantie (unten § 22 II). Gerade deshalb muſs aber auch ange-
nommen werden, daſs auch ohne besondere Vereinbarung jede Gebiets-
veränderung, sei es durch Vergröſserung, sei es durch Verkleinerung,
ohne Zustimmung der garantierenden Mächte ausgeschlossen ist.

R. G. I 417; Fauchille, R. G. II 427.

Die dauernde Neutralität, mag sie mit dritten Mächten ver-
einbart, oder durch diese auferlegt sein, bindet aber auch den
neutralisierten Staat insoweit, als er nicht nur andere Kriege als
zur Verteidigung seines Gebietes nicht führen, sondern auch im
Frieden keine Verträge schlieſsen darf, die ihn (wie Bündnisse
oder Garantieverträge) zur Kriegführung verpflichten könnten.
Jedoch ist die von ihm vorgenommene Kriegserklärung nicht
etwa nichtig, sondern sie hat alle die Rechtswirkungen, die durch
die Kriegserklärung von seiten eines nicht neutralisierten Staates
erzeugt werden (unten § 39 III). Wohl aber befreit sie die garan-
tierenden Staaten von der durch diese übernommenen Verpflichtung
und berechtigt sie zum Einschreiten gegen den neutralisierten Staat.

Da Gebietserwerbungen, insbesondere auch die Erwerbung
von Kolonieen einen Staat sehr leicht in kriegerische Verwicklungen
hineinziehen können, muſs auch aus diesem Grunde dem dauernd
neutralisierten Staat das Recht zu Gebietserwerbungen versagt
werden.


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[29/0051] § 6. Die souveräne Staatsgewalt. Die dauernde Neutralisierung unabhängiger Staaten findet sich erst seit dem Anfang dieses Jahrhunderts. Morand, R. G. I 522. Sie verfolgt den Zweck, den neutralisierten Staat im allge- meinen Interesse vor den Einverleibungsgelüsten der benachbarten Staaten sicherzustellen. In diesem Sinne kann man den neu- tralisierten Staat auch als „Pufferstaat“ (Etat tampon nach dem von Thiers eingeführten Ausdruck) bezeichnen. Diese Sicherung kann aber nur dann als hinreichend angesehen werden, wenn die interessierten Staaten sich verpflichten, die Integrität des Gebietes des neutralisierten Staates zu schützen und, wenn nötig, mit Waffen- gewalt zu verteidigen: Garantierung der Neutralität, meist als Kol- lektivgarantie (unten § 22 II). Gerade deshalb muſs aber auch ange- nommen werden, daſs auch ohne besondere Vereinbarung jede Gebiets- veränderung, sei es durch Vergröſserung, sei es durch Verkleinerung, ohne Zustimmung der garantierenden Mächte ausgeschlossen ist. R. G. I 417; Fauchille, R. G. II 427. Die dauernde Neutralität, mag sie mit dritten Mächten ver- einbart, oder durch diese auferlegt sein, bindet aber auch den neutralisierten Staat insoweit, als er nicht nur andere Kriege als zur Verteidigung seines Gebietes nicht führen, sondern auch im Frieden keine Verträge schlieſsen darf, die ihn (wie Bündnisse oder Garantieverträge) zur Kriegführung verpflichten könnten. Jedoch ist die von ihm vorgenommene Kriegserklärung nicht etwa nichtig, sondern sie hat alle die Rechtswirkungen, die durch die Kriegserklärung von seiten eines nicht neutralisierten Staates erzeugt werden (unten § 39 III). Wohl aber befreit sie die garan- tierenden Staaten von der durch diese übernommenen Verpflichtung und berechtigt sie zum Einschreiten gegen den neutralisierten Staat. Da Gebietserwerbungen, insbesondere auch die Erwerbung von Kolonieen einen Staat sehr leicht in kriegerische Verwicklungen hineinziehen können, muſs auch aus diesem Grunde dem dauernd neutralisierten Staat das Recht zu Gebietserwerbungen versagt werden.

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/51>, abgerufen am 23.11.2024.