Gerichte (insbesondere die Prisengerichte) bringen es zur Anwen- dung; nach englisch-amerikanischer Auffassung bildet das Völker- recht sogar einen integrierenden Bestandteil des nationalen Rechts.
Es darf eben nicht übersehen werden: die rechtsetzende, rich- tende, vollziehende Gewalt ist in Wahrheit doch vorhanden; es ist die Gemeinschaft der Kulturstaaten selbst. Mag diese auch bei dem Mangel einer bleibenden Organisation schwerfällig genug in Bewegung gesetzt werden, so fehlt ihr doch nicht die Möglichkeit (und sie hat von dieser oft genug Gebrauch gemacht), das Recht zu weisen, es anzuwenden und es durchzusetzen. Sie kann auf Staatenkon- gressen, oder in Versammlungen von Abgeordneten der einzelnen Staaten die künftig anzuwendenden Rechtssätze feststellen (unten § 2 I 2); sie kann in derselben Weise, so lange ein ständiger inter- nationaler Schiedsgerichtshof nicht eingerichtet ist (unten § 38 II), Streitigkeiten schlichten; sie kann durch diplomatische oder kriege- rische Kollektivintervention den drohenden Rechtsbruch hindern oder den gestörten Besitzstand wieder herstellen. Sie kann auch, wie sie das seit bald einem halben Jahrhundert in der orientalischen Frage ge- than hat, einem engeren Ausschusse (den europäischen Grossmächten) ihre Befugnis delegieren. Aber selbst wenn sie von allen diesen Möglichkeiten keinen Gebrauch macht, entbehren die von ihr auf- gestellten Normen nicht der Sanktion. Nur einem dem Leben völlig entfremdeten Auge vermöchten die überwältigenden Nachteile zu entgehen, die jeder Bruch des Völkerrechts heute für den recht- brechenden Staat im Gefolge hat: je verschlungener die Fäden des internationalen Verkehrs sind, desto lähmender muss die Isolierung auf jeden einzelnen Staat wirken.
III. Einteilung des Völkerrechts.
In der nachfolgenden Darstellung, die vier Bücher umfasst, wird ein allgemeiner und ein besonderer Teil des Völkerrechts unter- schieden. Das erste Buch des Allgemeinen Teiles bringt die Ent- wicklung der allgemeinen Rechtsregeln, durch welche, auch ab- gesehen von besonderen Vereinbarungen, die Rechtstellung der
§ 1. Begriff und Einteilung des Völkerrechts.
Gerichte (insbesondere die Prisengerichte) bringen es zur Anwen- dung; nach englisch-amerikanischer Auffassung bildet das Völker- recht sogar einen integrierenden Bestandteil des nationalen Rechts.
Es darf eben nicht übersehen werden: die rechtsetzende, rich- tende, vollziehende Gewalt ist in Wahrheit doch vorhanden; es ist die Gemeinschaft der Kulturstaaten selbst. Mag diese auch bei dem Mangel einer bleibenden Organisation schwerfällig genug in Bewegung gesetzt werden, so fehlt ihr doch nicht die Möglichkeit (und sie hat von dieser oft genug Gebrauch gemacht), das Recht zu weisen, es anzuwenden und es durchzusetzen. Sie kann auf Staatenkon- gressen, oder in Versammlungen von Abgeordneten der einzelnen Staaten die künftig anzuwendenden Rechtssätze feststellen (unten § 2 I 2); sie kann in derselben Weise, so lange ein ständiger inter- nationaler Schiedsgerichtshof nicht eingerichtet ist (unten § 38 II), Streitigkeiten schlichten; sie kann durch diplomatische oder kriege- rische Kollektivintervention den drohenden Rechtsbruch hindern oder den gestörten Besitzstand wieder herstellen. Sie kann auch, wie sie das seit bald einem halben Jahrhundert in der orientalischen Frage ge- than hat, einem engeren Ausschusse (den europäischen Groſsmächten) ihre Befugnis delegieren. Aber selbst wenn sie von allen diesen Möglichkeiten keinen Gebrauch macht, entbehren die von ihr auf- gestellten Normen nicht der Sanktion. Nur einem dem Leben völlig entfremdeten Auge vermöchten die überwältigenden Nachteile zu entgehen, die jeder Bruch des Völkerrechts heute für den recht- brechenden Staat im Gefolge hat: je verschlungener die Fäden des internationalen Verkehrs sind, desto lähmender muſs die Isolierung auf jeden einzelnen Staat wirken.
III. Einteilung des Völkerrechts.
In der nachfolgenden Darstellung, die vier Bücher umfaſst, wird ein allgemeiner und ein besonderer Teil des Völkerrechts unter- schieden. Das erste Buch des Allgemeinen Teiles bringt die Ent- wicklung der allgemeinen Rechtsregeln, durch welche, auch ab- gesehen von besonderen Vereinbarungen, die Rechtstellung der
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§ 1. Begriff und Einteilung des Völkerrechts.
Gerichte (insbesondere die Prisengerichte) bringen es zur Anwen-
dung; nach englisch-amerikanischer Auffassung bildet das Völker-
recht sogar einen integrierenden Bestandteil des nationalen Rechts.
Es darf eben nicht übersehen werden: die rechtsetzende, rich-
tende, vollziehende Gewalt ist in Wahrheit doch vorhanden; es ist
die Gemeinschaft der Kulturstaaten selbst. Mag diese auch bei dem
Mangel einer bleibenden Organisation schwerfällig genug in Bewegung
gesetzt werden, so fehlt ihr doch nicht die Möglichkeit (und sie
hat von dieser oft genug Gebrauch gemacht), das Recht zu weisen,
es anzuwenden und es durchzusetzen. Sie kann auf Staatenkon-
gressen, oder in Versammlungen von Abgeordneten der einzelnen
Staaten die künftig anzuwendenden Rechtssätze feststellen (unten
§ 2 I 2); sie kann in derselben Weise, so lange ein ständiger inter-
nationaler Schiedsgerichtshof nicht eingerichtet ist (unten § 38 II),
Streitigkeiten schlichten; sie kann durch diplomatische oder kriege-
rische Kollektivintervention den drohenden Rechtsbruch hindern oder
den gestörten Besitzstand wieder herstellen. Sie kann auch, wie sie
das seit bald einem halben Jahrhundert in der orientalischen Frage ge-
than hat, einem engeren Ausschusse (den europäischen Groſsmächten)
ihre Befugnis delegieren. Aber selbst wenn sie von allen diesen
Möglichkeiten keinen Gebrauch macht, entbehren die von ihr auf-
gestellten Normen nicht der Sanktion. Nur einem dem Leben völlig
entfremdeten Auge vermöchten die überwältigenden Nachteile zu
entgehen, die jeder Bruch des Völkerrechts heute für den recht-
brechenden Staat im Gefolge hat: je verschlungener die Fäden des
internationalen Verkehrs sind, desto lähmender muſs die Isolierung
auf jeden einzelnen Staat wirken.
III. Einteilung des Völkerrechts.
In der nachfolgenden Darstellung, die vier Bücher umfaſst,
wird ein allgemeiner und ein besonderer Teil des Völkerrechts unter-
schieden. Das erste Buch des Allgemeinen Teiles bringt die Ent-
wicklung der allgemeinen Rechtsregeln, durch welche, auch ab-
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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/27>, abgerufen am 28.07.2024.
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