Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 38. Erledigung ohne Waffengewalt.
Auseinandersetzung der Thatsachen, mit dem Verlangen der Abhülfe
und mit den nötigen Urkunden und Belegen zur Begründung seiner
Beschwerde versehen, dem andern Teile zugehen lassen, und er
darf zu keinem Akte der Wiedervergeltung die Ermäch-
tigung erteilen
oder Feindseligkeiten begehen, so lange nicht die
verlangte Genugthuung verweigert oder willkürlich verzögert wurde."

2. Dagegen besteht die Anwendung von Repressalien in der Er-
widerung einer Rechtsverletzung durch eine andere Rechtsverletzung.
Sie erscheint als eigenmächtige indirekte Durchsetzung eines Rechts-
anspruches. Sie ist völkerrechtlich erlaubt, soweit sie notwendig ist,
um den verletzenden Staat zur Erfüllung seiner völkerrechtlichen
Pflichten zu zwingen.

Im Mittelalter und vereinzelt bis zum Ausgange des 18. Jahr-
hunderts wurde regelmässig dem verletzten Staatsangehörigen durch
sogenannte Repressalienbriefe (lettres de marques) das Recht
gegeben, soviel Eigentum von Staatsangehörigen des verletzenden
Staates wegzunehmen, dass sein Anspruch befriedigt war. Nach
heutiger Rechtsanschauung steht die Ergreifung von Repressalien
nur dem berufenen Vertreter der Staatsgewalt des Staates zu, der
als solcher oder in seinen Angehörigen durch das Vorgehen eines
andern Staates (insbesondere durch Rechtsverweigerung oder Rechts-
beugung) verletzt worden ist. Die ergriffenen Massregeln können
sich gegen den verletzenden Staat selbst richten (insbesondere Be-
setzung von Gebiet, Beschiessung von Plätzen u. s. w.). Sie können
aber auch gegen die Person oder gegen das Vermögen der Ange-
hörigen dieses Staates sich wenden, also in der Festnahme von
Menschen (Androlepsie) oder in der Beschlagnahme von Sachen be-
stehen. Als Unterfall der letzteren erscheint auch hier das Embargo
oder die Beschlagnahme von Staatsschiffen oder Handelsschiffen des
verletzenden Staates, die sich in dem Herrschaftsbereich des verletzten
Staates befinden (oben § 24 III S. 129). So hat 1872 die deutsche
Korvette Vineta in Pont-au-Prince zwei haitische Kriegsfahrzeuge
weggenommen, da Haiti sich rechtswidrig weigerte, eine von
Deutschland verlangte Entschädigung zu zahlen. Mehrfach ist durch

§ 38. Erledigung ohne Waffengewalt.
Auseinandersetzung der Thatsachen, mit dem Verlangen der Abhülfe
und mit den nötigen Urkunden und Belegen zur Begründung seiner
Beschwerde versehen, dem andern Teile zugehen lassen, und er
darf zu keinem Akte der Wiedervergeltung die Ermäch-
tigung erteilen
oder Feindseligkeiten begehen, so lange nicht die
verlangte Genugthuung verweigert oder willkürlich verzögert wurde.“

2. Dagegen besteht die Anwendung von Repressalien in der Er-
widerung einer Rechtsverletzung durch eine andere Rechtsverletzung.
Sie erscheint als eigenmächtige indirekte Durchsetzung eines Rechts-
anspruches. Sie ist völkerrechtlich erlaubt, soweit sie notwendig ist,
um den verletzenden Staat zur Erfüllung seiner völkerrechtlichen
Pflichten zu zwingen.

Im Mittelalter und vereinzelt bis zum Ausgange des 18. Jahr-
hunderts wurde regelmäſsig dem verletzten Staatsangehörigen durch
sogenannte Repressalienbriefe (lettres de marques) das Recht
gegeben, soviel Eigentum von Staatsangehörigen des verletzenden
Staates wegzunehmen, daſs sein Anspruch befriedigt war. Nach
heutiger Rechtsanschauung steht die Ergreifung von Repressalien
nur dem berufenen Vertreter der Staatsgewalt des Staates zu, der
als solcher oder in seinen Angehörigen durch das Vorgehen eines
andern Staates (insbesondere durch Rechtsverweigerung oder Rechts-
beugung) verletzt worden ist. Die ergriffenen Maſsregeln können
sich gegen den verletzenden Staat selbst richten (insbesondere Be-
setzung von Gebiet, Beschieſsung von Plätzen u. s. w.). Sie können
aber auch gegen die Person oder gegen das Vermögen der Ange-
hörigen dieses Staates sich wenden, also in der Festnahme von
Menschen (Androlepsie) oder in der Beschlagnahme von Sachen be-
stehen. Als Unterfall der letzteren erscheint auch hier das Embargo
oder die Beschlagnahme von Staatsschiffen oder Handelsschiffen des
verletzenden Staates, die sich in dem Herrschaftsbereich des verletzten
Staates befinden (oben § 24 III S. 129). So hat 1872 die deutsche
Korvette Vineta in Pont-au-Prince zwei haïtische Kriegsfahrzeuge
weggenommen, da Haïti sich rechtswidrig weigerte, eine von
Deutschland verlangte Entschädigung zu zahlen. Mehrfach ist durch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0227" n="205"/><fw place="top" type="header">§ 38. Erledigung ohne Waffengewalt.</fw><lb/>
Auseinandersetzung der Thatsachen, mit dem Verlangen der Abhülfe<lb/>
und mit den nötigen Urkunden und Belegen zur Begründung seiner<lb/>
Beschwerde versehen, dem andern Teile zugehen lassen, <hi rendition="#g">und er<lb/>
darf zu keinem Akte der Wiedervergeltung die Ermäch-<lb/>
tigung erteilen</hi> oder Feindseligkeiten begehen, so lange nicht die<lb/>
verlangte Genugthuung verweigert oder willkürlich verzögert wurde.&#x201C;</p><lb/>
            <p> <hi rendition="#b">2. Dagegen besteht die Anwendung von Repressalien in der Er-<lb/>
widerung einer Rechtsverletzung durch eine andere Rechtsverletzung.<lb/>
Sie erscheint als eigenmächtige indirekte Durchsetzung eines Rechts-<lb/>
anspruches. Sie ist völkerrechtlich erlaubt, soweit sie notwendig ist,<lb/>
um den verletzenden Staat zur Erfüllung seiner völkerrechtlichen<lb/>
Pflichten zu zwingen.</hi> </p><lb/>
            <p>Im Mittelalter und vereinzelt bis zum Ausgange des 18. Jahr-<lb/>
hunderts wurde regelmä&#x017F;sig dem verletzten Staatsangehörigen durch<lb/>
sogenannte <hi rendition="#g">Repressalienbriefe</hi> (lettres de marques) das Recht<lb/>
gegeben, soviel Eigentum von Staatsangehörigen des verletzenden<lb/>
Staates wegzunehmen, da&#x017F;s sein Anspruch befriedigt war. Nach<lb/>
heutiger Rechtsanschauung steht die Ergreifung von Repressalien<lb/>
nur dem berufenen Vertreter der Staatsgewalt des Staates zu, der<lb/>
als solcher oder in seinen Angehörigen durch das Vorgehen eines<lb/>
andern Staates (insbesondere durch Rechtsverweigerung oder Rechts-<lb/>
beugung) verletzt worden ist. Die ergriffenen Ma&#x017F;sregeln können<lb/>
sich gegen den verletzenden Staat selbst richten (insbesondere Be-<lb/>
setzung von Gebiet, Beschie&#x017F;sung von Plätzen u. s. w.). Sie können<lb/>
aber auch gegen die Person oder gegen das Vermögen der Ange-<lb/>
hörigen dieses Staates sich wenden, also in der Festnahme von<lb/>
Menschen (Androlepsie) oder in der Beschlagnahme von Sachen be-<lb/>
stehen. Als Unterfall der letzteren erscheint auch hier das <hi rendition="#g">Embargo</hi><lb/>
oder die Beschlagnahme von Staatsschiffen oder Handelsschiffen des<lb/>
verletzenden Staates, die sich in dem Herrschaftsbereich des verletzten<lb/>
Staates befinden (oben § 24 III S. 129). So hat 1872 die deutsche<lb/>
Korvette Vineta in Pont-au-Prince zwei haïtische Kriegsfahrzeuge<lb/>
weggenommen, da Haïti sich rechtswidrig weigerte, eine von<lb/>
Deutschland verlangte Entschädigung zu zahlen. Mehrfach ist durch<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[205/0227] § 38. Erledigung ohne Waffengewalt. Auseinandersetzung der Thatsachen, mit dem Verlangen der Abhülfe und mit den nötigen Urkunden und Belegen zur Begründung seiner Beschwerde versehen, dem andern Teile zugehen lassen, und er darf zu keinem Akte der Wiedervergeltung die Ermäch- tigung erteilen oder Feindseligkeiten begehen, so lange nicht die verlangte Genugthuung verweigert oder willkürlich verzögert wurde.“ 2. Dagegen besteht die Anwendung von Repressalien in der Er- widerung einer Rechtsverletzung durch eine andere Rechtsverletzung. Sie erscheint als eigenmächtige indirekte Durchsetzung eines Rechts- anspruches. Sie ist völkerrechtlich erlaubt, soweit sie notwendig ist, um den verletzenden Staat zur Erfüllung seiner völkerrechtlichen Pflichten zu zwingen. Im Mittelalter und vereinzelt bis zum Ausgange des 18. Jahr- hunderts wurde regelmäſsig dem verletzten Staatsangehörigen durch sogenannte Repressalienbriefe (lettres de marques) das Recht gegeben, soviel Eigentum von Staatsangehörigen des verletzenden Staates wegzunehmen, daſs sein Anspruch befriedigt war. Nach heutiger Rechtsanschauung steht die Ergreifung von Repressalien nur dem berufenen Vertreter der Staatsgewalt des Staates zu, der als solcher oder in seinen Angehörigen durch das Vorgehen eines andern Staates (insbesondere durch Rechtsverweigerung oder Rechts- beugung) verletzt worden ist. Die ergriffenen Maſsregeln können sich gegen den verletzenden Staat selbst richten (insbesondere Be- setzung von Gebiet, Beschieſsung von Plätzen u. s. w.). Sie können aber auch gegen die Person oder gegen das Vermögen der Ange- hörigen dieses Staates sich wenden, also in der Festnahme von Menschen (Androlepsie) oder in der Beschlagnahme von Sachen be- stehen. Als Unterfall der letzteren erscheint auch hier das Embargo oder die Beschlagnahme von Staatsschiffen oder Handelsschiffen des verletzenden Staates, die sich in dem Herrschaftsbereich des verletzten Staates befinden (oben § 24 III S. 129). So hat 1872 die deutsche Korvette Vineta in Pont-au-Prince zwei haïtische Kriegsfahrzeuge weggenommen, da Haïti sich rechtswidrig weigerte, eine von Deutschland verlangte Entschädigung zu zahlen. Mehrfach ist durch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/227
Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/227>, abgerufen am 25.11.2024.