Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

Bild:
<< vorherige Seite

II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
dieser Zeit gekündigt werden. Aber auch bei Verträgen, die auf un-
bestimmte Zeit, vielleicht sogar "auf ewige Zeiten" geschlossen worden
sind, ist keiner der vertragschliessenden Teile mangels besonderer Ver-
einbarung zur einseitigen Kündigung berechtigt, soweit nicht etwa ein
Notstand im technischen Sinne des Wortes
(unten § 24 III) vorliegt.

2. Durch den Krieg werden die zwischen den kriegführenden
Staaten bestehenden Verträge aufgehoben, soweit sie nicht ganz oder
in einzelnen ihrer Bestimmungen gerade für den Fall des Krieges ge-
schlossen worden sind.

Es erlöschen also nicht bloss die Verträge, die mit dem
Kriegszustand unverträglich sind, also etwa Bündnisverträge, die
zwischen den jetzigen Gegnern geschlossen waren, sondern alle
Verträge, die nicht, wie die Genfer Konvention, Neutralisierungs-
verträge, Verträge über den freien Abzug gegnerischer Staats-
angehöriger u. s. w. erst unter der Voraussetzung des Kriegszustandes
ihre Wirksamkeit entfalten. Das gilt auch, dem Gegner gegenüber,
von den mit diesem und zugleich mit andern Staaten abgeschlossenen
Verträgen, soweit eine solche Ausscheidung der nur dem Gegner
gegenüber bestehenden Verpflichtungen durchführbar ist.

Die überwiegende Ansicht der Litteratur geht allerdings dahin,
dass die Verträge durch den Krieg nur suspendiert, nicht aufgehoben
werden. Die Staatenpraxis der letzten Jahrzehnte spricht aber gegen
diese Ansicht. Vgl. Artikel 11 Absatz 1 des Frankfurter Friedensver-
trages vom 10. Mai 1871 (und Artikel 18 des Zusatzvertrages vom
11. Dezember 1871). "Da die Handelsverträge mit den verschie-
denen Staaten Deutschlands durch den Krieg aufgehoben sind (ayant
ete annules par la guerre), so werden die Deutsche Regierung und
die Französische Regierung den Grundsatz der gegenseitigen Behand-
lung auf dem Fusse der meistbegünstigten Nation ihren Handels-
beziehungen zu Grunde legen." Ebenso wurde nach Beendigung
des türkisch-griechischen Krieges von 1897 von allen Seiten an-
erkannt, dass die vor dem Kriegsausbruch zwischen den beiden
Staaten geschlossenen Verträge, insbesondere auch die Kapitula-
tionen, aufgehoben seien.


II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.
dieser Zeit gekündigt werden. Aber auch bei Verträgen, die auf un-
bestimmte Zeit, vielleicht sogar „auf ewige Zeiten“ geschlossen worden
sind, ist keiner der vertragschlieſsenden Teile mangels besonderer Ver-
einbarung zur einseitigen Kündigung berechtigt, soweit nicht etwa ein
Notstand im technischen Sinne des Wortes
(unten § 24 III) vorliegt.

2. Durch den Krieg werden die zwischen den kriegführenden
Staaten bestehenden Verträge aufgehoben, soweit sie nicht ganz oder
in einzelnen ihrer Bestimmungen gerade für den Fall des Krieges ge-
schlossen worden sind.

Es erlöschen also nicht bloſs die Verträge, die mit dem
Kriegszustand unverträglich sind, also etwa Bündnisverträge, die
zwischen den jetzigen Gegnern geschlossen waren, sondern alle
Verträge, die nicht, wie die Genfer Konvention, Neutralisierungs-
verträge, Verträge über den freien Abzug gegnerischer Staats-
angehöriger u. s. w. erst unter der Voraussetzung des Kriegszustandes
ihre Wirksamkeit entfalten. Das gilt auch, dem Gegner gegenüber,
von den mit diesem und zugleich mit andern Staaten abgeschlossenen
Verträgen, soweit eine solche Ausscheidung der nur dem Gegner
gegenüber bestehenden Verpflichtungen durchführbar ist.

Die überwiegende Ansicht der Litteratur geht allerdings dahin,
daſs die Verträge durch den Krieg nur suspendiert, nicht aufgehoben
werden. Die Staatenpraxis der letzten Jahrzehnte spricht aber gegen
diese Ansicht. Vgl. Artikel 11 Absatz 1 des Frankfurter Friedensver-
trages vom 10. Mai 1871 (und Artikel 18 des Zusatzvertrages vom
11. Dezember 1871). „Da die Handelsverträge mit den verschie-
denen Staaten Deutschlands durch den Krieg aufgehoben sind (ayant
été annulés par la guerre), so werden die Deutsche Regierung und
die Französische Regierung den Grundsatz der gegenseitigen Behand-
lung auf dem Fuſse der meistbegünstigten Nation ihren Handels-
beziehungen zu Grunde legen.“ Ebenso wurde nach Beendigung
des türkisch-griechischen Krieges von 1897 von allen Seiten an-
erkannt, daſs die vor dem Kriegsausbruch zwischen den beiden
Staaten geschlossenen Verträge, insbesondere auch die Kapitula-
tionen, aufgehoben seien.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0140" n="118"/><fw place="top" type="header">II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen.</fw><lb/><hi rendition="#b">dieser Zeit gekündigt werden. Aber auch bei Verträgen, die auf un-<lb/>
bestimmte Zeit, vielleicht sogar &#x201E;auf ewige Zeiten&#x201C; geschlossen worden<lb/>
sind, ist keiner der vertragschlie&#x017F;senden Teile mangels besonderer Ver-<lb/>
einbarung zur einseitigen Kündigung berechtigt, soweit nicht etwa ein<lb/>
Notstand im technischen Sinne des Wortes</hi> (unten § 24 III) <hi rendition="#b">vorliegt.</hi></p><lb/>
              <p> <hi rendition="#b">2. Durch den Krieg werden die zwischen den kriegführenden<lb/>
Staaten bestehenden Verträge aufgehoben, soweit sie nicht ganz oder<lb/>
in einzelnen ihrer Bestimmungen gerade für den Fall des Krieges ge-<lb/>
schlossen worden sind.</hi> </p><lb/>
              <p>Es erlöschen also nicht blo&#x017F;s die Verträge, die mit dem<lb/>
Kriegszustand unverträglich sind, also etwa Bündnisverträge, die<lb/>
zwischen den jetzigen Gegnern geschlossen waren, sondern alle<lb/>
Verträge, die nicht, wie die Genfer Konvention, Neutralisierungs-<lb/>
verträge, Verträge über den freien Abzug gegnerischer Staats-<lb/>
angehöriger u. s. w. erst unter der Voraussetzung des Kriegszustandes<lb/>
ihre Wirksamkeit entfalten. Das gilt auch, dem Gegner gegenüber,<lb/>
von den mit diesem und zugleich mit andern Staaten abgeschlossenen<lb/>
Verträgen, soweit eine solche Ausscheidung der nur dem Gegner<lb/>
gegenüber bestehenden Verpflichtungen durchführbar ist.</p><lb/>
              <p>Die überwiegende Ansicht der Litteratur geht allerdings dahin,<lb/>
da&#x017F;s die Verträge durch den Krieg nur suspendiert, nicht aufgehoben<lb/>
werden. Die Staatenpraxis der letzten Jahrzehnte spricht aber gegen<lb/>
diese Ansicht. Vgl. Artikel 11 Absatz 1 des Frankfurter Friedensver-<lb/>
trages vom 10. Mai 1871 (und Artikel 18 des Zusatzvertrages vom<lb/>
11. Dezember 1871). &#x201E;Da die Handelsverträge mit den verschie-<lb/>
denen Staaten Deutschlands durch den Krieg aufgehoben sind (ayant<lb/>
été annulés par la guerre), so werden die Deutsche Regierung und<lb/>
die Französische Regierung den Grundsatz der gegenseitigen Behand-<lb/>
lung auf dem Fu&#x017F;se der meistbegünstigten Nation ihren Handels-<lb/>
beziehungen zu Grunde legen.&#x201C; Ebenso wurde nach Beendigung<lb/>
des türkisch-griechischen Krieges von 1897 von allen Seiten an-<lb/>
erkannt, da&#x017F;s die vor dem Kriegsausbruch zwischen den beiden<lb/>
Staaten geschlossenen Verträge, insbesondere auch die Kapitula-<lb/>
tionen, aufgehoben seien.</p>
            </div>
          </div><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[118/0140] II. Buch. Der völkerrechtl. Verkehr der Staaten im allgemeinen. dieser Zeit gekündigt werden. Aber auch bei Verträgen, die auf un- bestimmte Zeit, vielleicht sogar „auf ewige Zeiten“ geschlossen worden sind, ist keiner der vertragschlieſsenden Teile mangels besonderer Ver- einbarung zur einseitigen Kündigung berechtigt, soweit nicht etwa ein Notstand im technischen Sinne des Wortes (unten § 24 III) vorliegt. 2. Durch den Krieg werden die zwischen den kriegführenden Staaten bestehenden Verträge aufgehoben, soweit sie nicht ganz oder in einzelnen ihrer Bestimmungen gerade für den Fall des Krieges ge- schlossen worden sind. Es erlöschen also nicht bloſs die Verträge, die mit dem Kriegszustand unverträglich sind, also etwa Bündnisverträge, die zwischen den jetzigen Gegnern geschlossen waren, sondern alle Verträge, die nicht, wie die Genfer Konvention, Neutralisierungs- verträge, Verträge über den freien Abzug gegnerischer Staats- angehöriger u. s. w. erst unter der Voraussetzung des Kriegszustandes ihre Wirksamkeit entfalten. Das gilt auch, dem Gegner gegenüber, von den mit diesem und zugleich mit andern Staaten abgeschlossenen Verträgen, soweit eine solche Ausscheidung der nur dem Gegner gegenüber bestehenden Verpflichtungen durchführbar ist. Die überwiegende Ansicht der Litteratur geht allerdings dahin, daſs die Verträge durch den Krieg nur suspendiert, nicht aufgehoben werden. Die Staatenpraxis der letzten Jahrzehnte spricht aber gegen diese Ansicht. Vgl. Artikel 11 Absatz 1 des Frankfurter Friedensver- trages vom 10. Mai 1871 (und Artikel 18 des Zusatzvertrages vom 11. Dezember 1871). „Da die Handelsverträge mit den verschie- denen Staaten Deutschlands durch den Krieg aufgehoben sind (ayant été annulés par la guerre), so werden die Deutsche Regierung und die Französische Regierung den Grundsatz der gegenseitigen Behand- lung auf dem Fuſse der meistbegünstigten Nation ihren Handels- beziehungen zu Grunde legen.“ Ebenso wurde nach Beendigung des türkisch-griechischen Krieges von 1897 von allen Seiten an- erkannt, daſs die vor dem Kriegsausbruch zwischen den beiden Staaten geschlossenen Verträge, insbesondere auch die Kapitula- tionen, aufgehoben seien.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/140
Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/140>, abgerufen am 27.04.2024.