a) die körperliche Bewegung hat begonnen, ist aber noch nicht abgeschlossen; ich bin im Begriffe, den nach New- York bestimmten beleidigenden Brief in den Briefkasten zu werfen; ich habe die das Beil führende Hand zum Schlage erhoben usw.
b) die Bewegung ist beendet, der Kausalismus, dem sie den Anstoß gegeben, ist im Laufen begriffen: mein Brief ist auf dem Postdampfer unterwegs nach Amerika; der zu fällende Baum hat den letzten Schlag erhalten und be- ginnt langsam zu sinken.
c) Die Kausalreihe ist abgelaufen, ohne das vorgestellte Objekt zu treffen: der Postdampfer ist mit der ganzen Ladung gescheitert, der Baum ist gestürzt, aber hart neben dem auf dem Rasen schlafenden B.
d) Die Kausalreihe hat ablaufend das Objekt erreicht, aber noch ist der vorgestellte Erfolg nicht eingetreten: mein Brief liegt im Hause des Adressaten, der auf einige Tage verreist, erst in mehreren Stunden eintreffen soll: der schla- fende B ist getroffen, tötlich verletzt, aber er lebt noch.
e) Der Erfolg, hier die Rechtsgüterverletzung -- Belei- digung, Tötung -- ist eingetreten: Zeitpunkt der Voll- endung.
Die Vollendung des Verbrechens kann unterbleiben: ad a, wenn die Bewegung gehemmt wird; ad b, wenn die
2[Spaltenumbruch]
Der Einfachheit wegen habe ich Beispiele gewählt, bei wel- chen Vollendung des Verbrechens und Vollendung der Rechts- güterverletzung sich decken. Es bedarf aber wohl nur eines Hin- blickes auf den unten §. 36 I[Spaltenumbruch]
erörterten Begriff der fingierten Thäterschaft, um sich zu über- zeugen, daß bei jedem Ver- brechen unter Umständen diese Stadien auseinanderfallen kön- nen.
Entwicklung des Verſuchsbegriffes. §. 32.
Wir können folgende Fälle unterſcheiden:2
a) die körperliche Bewegung hat begonnen, iſt aber noch nicht abgeſchloſſen; ich bin im Begriffe, den nach New- York beſtimmten beleidigenden Brief in den Briefkaſten zu werfen; ich habe die das Beil führende Hand zum Schlage erhoben uſw.
b) die Bewegung iſt beendet, der Kauſalismus, dem ſie den Anſtoß gegeben, iſt im Laufen begriffen: mein Brief iſt auf dem Poſtdampfer unterwegs nach Amerika; der zu fällende Baum hat den letzten Schlag erhalten und be- ginnt langſam zu ſinken.
c) Die Kauſalreihe iſt abgelaufen, ohne das vorgeſtellte Objekt zu treffen: der Poſtdampfer iſt mit der ganzen Ladung geſcheitert, der Baum iſt geſtürzt, aber hart neben dem auf dem Raſen ſchlafenden B.
d) Die Kauſalreihe hat ablaufend das Objekt erreicht, aber noch iſt der vorgeſtellte Erfolg nicht eingetreten: mein Brief liegt im Hauſe des Adreſſaten, der auf einige Tage verreiſt, erſt in mehreren Stunden eintreffen ſoll: der ſchla- fende B iſt getroffen, tötlich verletzt, aber er lebt noch.
e) Der Erfolg, hier die Rechtsgüterverletzung — Belei- digung, Tötung — iſt eingetreten: Zeitpunkt der Voll- endung.
Die Vollendung des Verbrechens kann unterbleiben: ad a, wenn die Bewegung gehemmt wird; ad b, wenn die
2[Spaltenumbruch]
Der Einfachheit wegen habe ich Beiſpiele gewählt, bei wel- chen Vollendung des Verbrechens und Vollendung der Rechts- güterverletzung ſich decken. Es bedarf aber wohl nur eines Hin- blickes auf den unten §. 36 I[Spaltenumbruch]
erörterten Begriff der fingierten Thäterſchaft, um ſich zu über- zeugen, daß bei jedem Ver- brechen unter Umſtänden dieſe Stadien auseinanderfallen kön- nen.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><pbfacs="#f0159"n="133"/><fwplace="top"type="header">Entwicklung des Verſuchsbegriffes. §. 32.</fw><lb/><p>Wir können folgende Fälle unterſcheiden:<noteplace="foot"n="2"><cb/>
Der Einfachheit wegen habe<lb/>
ich Beiſpiele gewählt, bei wel-<lb/>
chen Vollendung des Verbrechens<lb/>
und Vollendung der Rechts-<lb/>
güterverletzung ſich decken. Es<lb/>
bedarf aber wohl nur eines Hin-<lb/>
blickes auf den unten §. 36 <hirendition="#aq">I</hi><cb/>
erörterten Begriff der fingierten<lb/>
Thäterſchaft, um ſich zu über-<lb/>
zeugen, daß bei <hirendition="#g">jedem</hi> Ver-<lb/>
brechen unter Umſtänden dieſe<lb/>
Stadien auseinanderfallen kön-<lb/>
nen.</note></p><lb/><p><hirendition="#aq">a</hi>) die <hirendition="#g">körperliche Bewegung</hi> hat begonnen, iſt aber<lb/>
noch nicht abgeſchloſſen; ich bin im Begriffe, den nach New-<lb/>
York beſtimmten beleidigenden Brief in den Briefkaſten zu<lb/>
werfen; ich habe die das Beil führende Hand zum Schlage<lb/>
erhoben uſw.</p><lb/><p><hirendition="#aq">b</hi>) die Bewegung iſt beendet, der <hirendition="#g">Kauſalismus</hi>, dem<lb/>ſie den Anſtoß gegeben, <hirendition="#g">iſt im Laufen begriffen</hi>: mein<lb/>
Brief iſt auf dem Poſtdampfer unterwegs nach Amerika; der<lb/>
zu fällende Baum hat den letzten Schlag erhalten und be-<lb/>
ginnt langſam zu ſinken.</p><lb/><p><hirendition="#aq">c</hi>) Die <hirendition="#g">Kauſalreihe iſt abgelaufen, ohne das<lb/>
vorgeſtellte Objekt zu treffen</hi>: der Poſtdampfer iſt mit<lb/>
der ganzen Ladung geſcheitert, der Baum iſt geſtürzt, aber<lb/>
hart <hirendition="#g">neben</hi> dem auf dem Raſen ſchlafenden <hirendition="#aq">B.</hi></p><lb/><p><hirendition="#aq">d</hi>) Die Kauſalreihe hat ablaufend das Objekt erreicht,<lb/>
aber noch iſt der vorgeſtellte Erfolg nicht eingetreten: mein<lb/>
Brief liegt im Hauſe des Adreſſaten, der auf einige Tage<lb/>
verreiſt, erſt in mehreren Stunden eintreffen ſoll: der ſchla-<lb/>
fende <hirendition="#aq">B</hi> iſt getroffen, tötlich verletzt, aber er lebt noch.</p><lb/><p><hirendition="#aq">e</hi>) Der Erfolg, hier die Rechtsgüterverletzung — Belei-<lb/>
digung, Tötung — iſt eingetreten: Zeitpunkt der <hirendition="#g">Voll-<lb/>
endung</hi>.</p><lb/><p>Die Vollendung des Verbrechens kann unterbleiben:<lb/><hirendition="#aq">ad a</hi>, wenn die Bewegung gehemmt wird; <hirendition="#aq">ad b</hi>, wenn die<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[133/0159]
Entwicklung des Verſuchsbegriffes. §. 32.
Wir können folgende Fälle unterſcheiden: 2
a) die körperliche Bewegung hat begonnen, iſt aber
noch nicht abgeſchloſſen; ich bin im Begriffe, den nach New-
York beſtimmten beleidigenden Brief in den Briefkaſten zu
werfen; ich habe die das Beil führende Hand zum Schlage
erhoben uſw.
b) die Bewegung iſt beendet, der Kauſalismus, dem
ſie den Anſtoß gegeben, iſt im Laufen begriffen: mein
Brief iſt auf dem Poſtdampfer unterwegs nach Amerika; der
zu fällende Baum hat den letzten Schlag erhalten und be-
ginnt langſam zu ſinken.
c) Die Kauſalreihe iſt abgelaufen, ohne das
vorgeſtellte Objekt zu treffen: der Poſtdampfer iſt mit
der ganzen Ladung geſcheitert, der Baum iſt geſtürzt, aber
hart neben dem auf dem Raſen ſchlafenden B.
d) Die Kauſalreihe hat ablaufend das Objekt erreicht,
aber noch iſt der vorgeſtellte Erfolg nicht eingetreten: mein
Brief liegt im Hauſe des Adreſſaten, der auf einige Tage
verreiſt, erſt in mehreren Stunden eintreffen ſoll: der ſchla-
fende B iſt getroffen, tötlich verletzt, aber er lebt noch.
e) Der Erfolg, hier die Rechtsgüterverletzung — Belei-
digung, Tötung — iſt eingetreten: Zeitpunkt der Voll-
endung.
Die Vollendung des Verbrechens kann unterbleiben:
ad a, wenn die Bewegung gehemmt wird; ad b, wenn die
2
Der Einfachheit wegen habe
ich Beiſpiele gewählt, bei wel-
chen Vollendung des Verbrechens
und Vollendung der Rechts-
güterverletzung ſich decken. Es
bedarf aber wohl nur eines Hin-
blickes auf den unten §. 36 I
erörterten Begriff der fingierten
Thäterſchaft, um ſich zu über-
zeugen, daß bei jedem Ver-
brechen unter Umſtänden dieſe
Stadien auseinanderfallen kön-
nen.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Liszt, Franz von: Das deutsche Reichsstrafrecht. Berlin u. a., 1881, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_reichsstrafrecht_1881/159>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.