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[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739.

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(o)
thier vertilget würde! und kan man demnach die
Blindheit unserer Feinde gnug beseufzen, die so viel
Wesens aus einer Kraft unserer Seele machen, die
nimmer das geringste gutes, wohl aber unsäglich
viel böses gestistet hat?

Jch gestehe, die Vernunft ist eine Gabe GOt-
tes: Aber der Ausgang hat gewiesen, daß sie ein
schädliches Geschenck gewesen ist. Wenigstens
haben sich Leute gefunden, die geglaubt, es wäre
besser, wenn uns GOtt die Vernunft nicht gege-
ben hätte. Haud scio, sagt Cicero (26). an
melius fuerit, humano generi motum istum ce-
lerem cogitationis, acumen, solertiam, quam
rationem vocamus, quoniam pestifera sit mul-
tis, admodum paucis salutaris non dariomnino,
quam tam munifice, & tam large dari.
Er füh-
ret dieses noch weitläuftiger aus: Und ich weiß
nicht, ob er groß Unrecht hat. Denn die Ver-
nunft hat dem Menschen nimmer viel Vortheil ge-
bracht. Kaum war der erste Mensch erschaffen,
so verleitete ihn seine Vernunft zu derjenigen Sün-
de, wodurch er sich und seine Nachkommen un-
glücklich machte. Eva fieng an zu grübeln, und
da war es um sie, und um uns alle geschehen. Sie
würde es wohl gelassen haben, wenn sie entweder
keine Vernunft gehabt hätte, oder nur so gesinnet
gewesen wäre, als ich und meine vortreflichen Brü-
der. Und dennoch lachet man uns aus.

Nachdem die Vernunft in der Mutter aller Le-
bendigen den ersten Schnitzer begangen hat, ist sie
immer weiter verfallen, und unsere Feinde bekennen

selbst,
(26) de Natura Deorum lib. III.

(o)
thier vertilget wuͤrde! und kan man demnach die
Blindheit unſerer Feinde gnug beſeufzen, die ſo viel
Weſens aus einer Kraft unſerer Seele machen, die
nimmer das geringſte gutes, wohl aber unſaͤglich
viel boͤſes geſtiſtet hat?

Jch geſtehe, die Vernunft iſt eine Gabe GOt-
tes: Aber der Ausgang hat gewieſen, daß ſie ein
ſchaͤdliches Geſchenck geweſen iſt. Wenigſtens
haben ſich Leute gefunden, die geglaubt, es waͤre
beſſer, wenn uns GOtt die Vernunft nicht gege-
ben haͤtte. Haud ſcio, ſagt Cicero (26). an
melius fuerit, humano generi motum iſtum ce-
lerem cogitationis, acumen, ſolertiam, quam
rationem vocamus, quoniam peſtifera ſit mul-
tis, admodum paucis ſalutaris non dariomnino,
quam tam munifice, & tam large dari.
Er fuͤh-
ret dieſes noch weitlaͤuftiger aus: Und ich weiß
nicht, ob er groß Unrecht hat. Denn die Ver-
nunft hat dem Menſchen nimmer viel Vortheil ge-
bracht. Kaum war der erſte Menſch erſchaffen,
ſo verleitete ihn ſeine Vernunft zu derjenigen Suͤn-
de, wodurch er ſich und ſeine Nachkommen un-
gluͤcklich machte. Eva fieng an zu gruͤbeln, und
da war es um ſie, und um uns alle geſchehen. Sie
wuͤrde es wohl gelaſſen haben, wenn ſie entweder
keine Vernunft gehabt haͤtte, oder nur ſo geſinnet
geweſen waͤre, als ich und meine vortreflichen Bruͤ-
der. Und dennoch lachet man uns aus.

Nachdem die Vernunft in der Mutter aller Le-
bendigen den erſten Schnitzer begangen hat, iſt ſie
immer weiter verfallen, und unſere Feinde bekennen

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(26) de Natura Deorum lib. III.
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[506/0598] (o) thier vertilget wuͤrde! und kan man demnach die Blindheit unſerer Feinde gnug beſeufzen, die ſo viel Weſens aus einer Kraft unſerer Seele machen, die nimmer das geringſte gutes, wohl aber unſaͤglich viel boͤſes geſtiſtet hat? Jch geſtehe, die Vernunft iſt eine Gabe GOt- tes: Aber der Ausgang hat gewieſen, daß ſie ein ſchaͤdliches Geſchenck geweſen iſt. Wenigſtens haben ſich Leute gefunden, die geglaubt, es waͤre beſſer, wenn uns GOtt die Vernunft nicht gege- ben haͤtte. Haud ſcio, ſagt Cicero (26). an melius fuerit, humano generi motum iſtum ce- lerem cogitationis, acumen, ſolertiam, quam rationem vocamus, quoniam peſtifera ſit mul- tis, admodum paucis ſalutaris non dariomnino, quam tam munifice, & tam large dari. Er fuͤh- ret dieſes noch weitlaͤuftiger aus: Und ich weiß nicht, ob er groß Unrecht hat. Denn die Ver- nunft hat dem Menſchen nimmer viel Vortheil ge- bracht. Kaum war der erſte Menſch erſchaffen, ſo verleitete ihn ſeine Vernunft zu derjenigen Suͤn- de, wodurch er ſich und ſeine Nachkommen un- gluͤcklich machte. Eva fieng an zu gruͤbeln, und da war es um ſie, und um uns alle geſchehen. Sie wuͤrde es wohl gelaſſen haben, wenn ſie entweder keine Vernunft gehabt haͤtte, oder nur ſo geſinnet geweſen waͤre, als ich und meine vortreflichen Bruͤ- der. Und dennoch lachet man uns aus. Nachdem die Vernunft in der Mutter aller Le- bendigen den erſten Schnitzer begangen hat, iſt ſie immer weiter verfallen, und unſere Feinde bekennen ſelbſt, (26) de Natura Deorum lib. III.

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Zitationshilfe: [Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 506. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/598>, abgerufen am 18.05.2024.