Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739.

Bild:
<< vorherige Seite

(o)
"Schriften, die so beschafen sind, daß man schwe-
"ren solte, sie hätten keine Vernunft.

Jch bin viel zu wenig, zu entscheiden, welche
Parthey recht hat. Es thut auch zu meinem Zweck
nichts, dieses auszumachen. Denn die Kette, an
welche die Vernunft geleget werden muß, mag nun
lang oder kurtz seyn sollen; so gewinnen wir elende
Scribenten allemahl dabey: Weil doch immer
ausgemacht bleibt, daß die Vernunft, und deren
Gebrauch nicht frey seyn müsse, woraus gantz un-
gezwungen folget, daß es uns nicht könne verar-
get werden, wenn wir eine so gefährliche Kraft
der Seele, so viel möglich, in ihren Schrancken
halten.

Wenn es mir indessen erlaubt ist, meine un-
vorgreifliche Meynung zusagen, so halte ich davor,
daß man diese Schrancken so enge machen müsse,
als nur immer thulich ist, und daß diejenigen der
Wahrheit am nechsten kommen, welche glauben,
man müsse die Vernunft fein kurtz anschliessen.
Jch bin auch versichert, daß es nicht übel gethan
seyn würde, wenn man sie beständig geknebelt, und
an allen vieren gebunden, liegen lassen wolte. Ja,
wenn ich aufrichtig sagen soll, wie mirs ums Her-
tze ist, so halte ich davor, das sicherste sey, ihr
das Genicke zu brechen; denn so könnte sie gar
nichts böses mehr anrichten, und man wäre aller
Mühe und Sorge auf einmahl loß.

Es hat mir dahero sehr wohl gefallen, daß
mein vornehmer Gönner, und in Midas hertz-
lich geliebter Bruder, Philippi, den heroischen
Entschluß gefasset hat, eine Anatomie des mensch-

lichen

(o)
„Schriften, die ſo beſchafen ſind, daß man ſchwe-
„ren ſolte, ſie haͤtten keine Vernunft.

Jch bin viel zu wenig, zu entſcheiden, welche
Parthey recht hat. Es thut auch zu meinem Zweck
nichts, dieſes auszumachen. Denn die Kette, an
welche die Vernunft geleget werden muß, mag nun
lang oder kurtz ſeyn ſollen; ſo gewinnen wir elende
Scribenten allemahl dabey: Weil doch immer
ausgemacht bleibt, daß die Vernunft, und deren
Gebrauch nicht frey ſeyn muͤſſe, woraus gantz un-
gezwungen folget, daß es uns nicht koͤnne verar-
get werden, wenn wir eine ſo gefaͤhrliche Kraft
der Seele, ſo viel moͤglich, in ihren Schrancken
halten.

Wenn es mir indeſſen erlaubt iſt, meine un-
vorgreifliche Meynung zuſagen, ſo halte ich davor,
daß man dieſe Schrancken ſo enge machen muͤſſe,
als nur immer thulich iſt, und daß diejenigen der
Wahrheit am nechſten kommen, welche glauben,
man muͤſſe die Vernunft fein kurtz anſchlieſſen.
Jch bin auch verſichert, daß es nicht uͤbel gethan
ſeyn wuͤrde, wenn man ſie beſtaͤndig geknebelt, und
an allen vieren gebunden, liegen laſſen wolte. Ja,
wenn ich aufrichtig ſagen ſoll, wie mirs ums Her-
tze iſt, ſo halte ich davor, das ſicherſte ſey, ihr
das Genicke zu brechen; denn ſo koͤnnte ſie gar
nichts boͤſes mehr anrichten, und man waͤre aller
Muͤhe und Sorge auf einmahl loß.

Es hat mir dahero ſehr wohl gefallen, daß
mein vornehmer Goͤnner, und in Midas hertz-
lich geliebter Bruder, Philippi, den heroiſchen
Entſchluß gefaſſet hat, eine Anatomie des menſch-

lichen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0596" n="504"/><fw place="top" type="header">(<hi rendition="#aq">o</hi>)</fw><lb/>
&#x201E;Schriften, die &#x017F;o be&#x017F;chafen &#x017F;ind, daß man &#x017F;chwe-<lb/>
&#x201E;ren &#x017F;olte, &#x017F;ie ha&#x0364;tten keine Vernunft.</p><lb/>
          <p>Jch bin viel zu wenig, zu ent&#x017F;cheiden, welche<lb/>
Parthey recht hat. Es thut auch zu meinem Zweck<lb/>
nichts, die&#x017F;es auszumachen. Denn die Kette, an<lb/>
welche die Vernunft geleget werden muß, mag nun<lb/>
lang oder kurtz &#x017F;eyn &#x017F;ollen; &#x017F;o gewinnen wir elende<lb/>
Scribenten allemahl dabey: Weil doch immer<lb/>
ausgemacht bleibt, daß die Vernunft, und deren<lb/>
Gebrauch nicht frey &#x017F;eyn mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, woraus gantz un-<lb/>
gezwungen folget, daß es uns nicht ko&#x0364;nne verar-<lb/>
get werden, wenn wir eine &#x017F;o gefa&#x0364;hrliche Kraft<lb/>
der Seele, &#x017F;o viel mo&#x0364;glich, in ihren Schrancken<lb/>
halten.</p><lb/>
          <p>Wenn es mir inde&#x017F;&#x017F;en erlaubt i&#x017F;t, meine un-<lb/>
vorgreifliche Meynung zu&#x017F;agen, &#x017F;o halte ich davor,<lb/>
daß man die&#x017F;e Schrancken &#x017F;o enge machen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e,<lb/>
als nur immer thulich i&#x017F;t, und daß diejenigen der<lb/>
Wahrheit am nech&#x017F;ten kommen, welche glauben,<lb/>
man mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e die Vernunft fein kurtz an&#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Jch bin auch ver&#x017F;ichert, daß es nicht u&#x0364;bel gethan<lb/>
&#x017F;eyn wu&#x0364;rde, wenn man &#x017F;ie be&#x017F;ta&#x0364;ndig geknebelt, und<lb/>
an allen vieren gebunden, liegen la&#x017F;&#x017F;en wolte. Ja,<lb/>
wenn ich aufrichtig &#x017F;agen &#x017F;oll, wie mirs ums Her-<lb/>
tze i&#x017F;t, &#x017F;o halte ich davor, das &#x017F;icher&#x017F;te &#x017F;ey, ihr<lb/>
das Genicke zu brechen; denn &#x017F;o ko&#x0364;nnte &#x017F;ie gar<lb/>
nichts bo&#x0364;&#x017F;es mehr anrichten, und man wa&#x0364;re aller<lb/>
Mu&#x0364;he und Sorge auf einmahl loß.</p><lb/>
          <p>Es hat mir dahero &#x017F;ehr wohl gefallen, daß<lb/>
mein vornehmer Go&#x0364;nner, und in Midas hertz-<lb/>
lich geliebter Bruder, Philippi, den heroi&#x017F;chen<lb/>
Ent&#x017F;chluß gefa&#x017F;&#x017F;et hat, eine Anatomie des men&#x017F;ch-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">lichen</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[504/0596] (o) „Schriften, die ſo beſchafen ſind, daß man ſchwe- „ren ſolte, ſie haͤtten keine Vernunft. Jch bin viel zu wenig, zu entſcheiden, welche Parthey recht hat. Es thut auch zu meinem Zweck nichts, dieſes auszumachen. Denn die Kette, an welche die Vernunft geleget werden muß, mag nun lang oder kurtz ſeyn ſollen; ſo gewinnen wir elende Scribenten allemahl dabey: Weil doch immer ausgemacht bleibt, daß die Vernunft, und deren Gebrauch nicht frey ſeyn muͤſſe, woraus gantz un- gezwungen folget, daß es uns nicht koͤnne verar- get werden, wenn wir eine ſo gefaͤhrliche Kraft der Seele, ſo viel moͤglich, in ihren Schrancken halten. Wenn es mir indeſſen erlaubt iſt, meine un- vorgreifliche Meynung zuſagen, ſo halte ich davor, daß man dieſe Schrancken ſo enge machen muͤſſe, als nur immer thulich iſt, und daß diejenigen der Wahrheit am nechſten kommen, welche glauben, man muͤſſe die Vernunft fein kurtz anſchlieſſen. Jch bin auch verſichert, daß es nicht uͤbel gethan ſeyn wuͤrde, wenn man ſie beſtaͤndig geknebelt, und an allen vieren gebunden, liegen laſſen wolte. Ja, wenn ich aufrichtig ſagen ſoll, wie mirs ums Her- tze iſt, ſo halte ich davor, das ſicherſte ſey, ihr das Genicke zu brechen; denn ſo koͤnnte ſie gar nichts boͤſes mehr anrichten, und man waͤre aller Muͤhe und Sorge auf einmahl loß. Es hat mir dahero ſehr wohl gefallen, daß mein vornehmer Goͤnner, und in Midas hertz- lich geliebter Bruder, Philippi, den heroiſchen Entſchluß gefaſſet hat, eine Anatomie des menſch- lichen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Die Verlagsangabe wurde ermittelt (vgl. http://op… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/596
Zitationshilfe: [Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 504. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/596>, abgerufen am 18.05.2024.