Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lilienthal, Otto: Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst. Ein Beitrag zur Systematik der Flugtechnik. Berlin, 1889.

Bild:
<< vorherige Seite

Soll dieses schmerzliche Bewusstsein durch die traurige
Gewissheit noch vermehrt werden, dass es uns nie und nimmer
gelingen wird, dem Vogel seine Fliegekunst abzulauschen?
Oder wird es in der Macht des menschlichen Verstandes
liegen, jene Mittel zu ergründen, welche uns zu ersetzen ver-
mögen, was die Natur uns versagte?

Bewiesen ist bis jetzt weder das Eine noch das Andere,
aber wir nehmen mit Genugthuung wahr, dass die Zahl der-
jenigen Männer stetig wächst, welche es sich zur ernsten
Aufgabe gemacht haben, mehr Licht über dieses noch so
dunkle Gebiet unseres Wissens zu verbreiten.

Die Beobachtung der Natur ist es, welche immer und
immer wieder dem Gedanken Nahrung giebt: "Es kann und
darf die Fliegekunst nicht für ewig dem Menschen versagt
sein."

Wer Gelegenheit hatte, seine Naturbeobachtung auch auf
jene grossen Vögel auszudehnen, welche mit langsamen Flügel-
schlägen und oft mit nur ausgebreiteten Schwingen segelnd
das Luftreich durchmessen, wem es gar vergönnt war, die
grossen Flieger des hohen Meeres aus unmittelbarer Nähe bei
ihrem Fluge zu betrachten, sich an der Schönheit und Voll-
endung ihrer Bewegungen zu weiden, über die Sicherheit in
der Wirkung ihres Flugapparates zu staunen, wer endlich aus
der Ruhe dieser Bewegungen die mässige Anstrengung zu er-
kennen und aus der helfenden Wirkung des Windes auf den
für solches Fliegen erforderlichen geringen Kraftaufwand zu
schliessen vermag, der wird auch die Zeit nicht mehr fern
wähnen, wo unsere Erkenntnis die nötige Reife erlangt haben
wird, auch jene Vorgänge richtig zu erklären, und dadurch
den Bann zu brechen, welcher uns bis jetzt hinderte, auch
nur ein einziges Mal zu freiem Fluge unseren Fuss von der
Erde zu lösen.

Aber nicht unser Wunsch allein soll es sein, den Vögeln
ihre Kunst abzulauschen, nein, unsere Pflicht ist es, nicht eher
zu ruhen, als bis wir die volle wissenschaftliche Klarheit
über die Vorgänge des Fliegens erlangt haben. Sei es nun,

Soll dieses schmerzliche Bewuſstsein durch die traurige
Gewiſsheit noch vermehrt werden, daſs es uns nie und nimmer
gelingen wird, dem Vogel seine Fliegekunst abzulauschen?
Oder wird es in der Macht des menschlichen Verstandes
liegen, jene Mittel zu ergründen, welche uns zu ersetzen ver-
mögen, was die Natur uns versagte?

Bewiesen ist bis jetzt weder das Eine noch das Andere,
aber wir nehmen mit Genugthuung wahr, daſs die Zahl der-
jenigen Männer stetig wächst, welche es sich zur ernsten
Aufgabe gemacht haben, mehr Licht über dieses noch so
dunkle Gebiet unseres Wissens zu verbreiten.

Die Beobachtung der Natur ist es, welche immer und
immer wieder dem Gedanken Nahrung giebt: „Es kann und
darf die Fliegekunst nicht für ewig dem Menschen versagt
sein.“

Wer Gelegenheit hatte, seine Naturbeobachtung auch auf
jene groſsen Vögel auszudehnen, welche mit langsamen Flügel-
schlägen und oft mit nur ausgebreiteten Schwingen segelnd
das Luftreich durchmessen, wem es gar vergönnt war, die
groſsen Flieger des hohen Meeres aus unmittelbarer Nähe bei
ihrem Fluge zu betrachten, sich an der Schönheit und Voll-
endung ihrer Bewegungen zu weiden, über die Sicherheit in
der Wirkung ihres Flugapparates zu staunen, wer endlich aus
der Ruhe dieser Bewegungen die mäſsige Anstrengung zu er-
kennen und aus der helfenden Wirkung des Windes auf den
für solches Fliegen erforderlichen geringen Kraftaufwand zu
schlieſsen vermag, der wird auch die Zeit nicht mehr fern
wähnen, wo unsere Erkenntnis die nötige Reife erlangt haben
wird, auch jene Vorgänge richtig zu erklären, und dadurch
den Bann zu brechen, welcher uns bis jetzt hinderte, auch
nur ein einziges Mal zu freiem Fluge unseren Fuſs von der
Erde zu lösen.

Aber nicht unser Wunsch allein soll es sein, den Vögeln
ihre Kunst abzulauschen, nein, unsere Pflicht ist es, nicht eher
zu ruhen, als bis wir die volle wissenschaftliche Klarheit
über die Vorgänge des Fliegens erlangt haben. Sei es nun,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0018" n="2"/>
        <p>Soll dieses schmerzliche Bewu&#x017F;stsein durch die traurige<lb/>
Gewi&#x017F;sheit noch vermehrt werden, da&#x017F;s es uns nie und nimmer<lb/>
gelingen wird, dem Vogel seine Fliegekunst abzulauschen?<lb/>
Oder wird es in der Macht des menschlichen Verstandes<lb/>
liegen, jene Mittel zu ergründen, welche uns zu ersetzen ver-<lb/>
mögen, was die Natur uns versagte?</p><lb/>
        <p>Bewiesen ist bis jetzt weder das Eine noch das Andere,<lb/>
aber wir nehmen mit Genugthuung wahr, da&#x017F;s die Zahl der-<lb/>
jenigen Männer stetig wächst, welche es sich zur ernsten<lb/>
Aufgabe gemacht haben, mehr Licht über dieses noch so<lb/>
dunkle Gebiet unseres Wissens zu verbreiten.</p><lb/>
        <p>Die Beobachtung der Natur ist es, welche immer und<lb/>
immer wieder <hi rendition="#g">dem</hi> Gedanken Nahrung giebt: &#x201E;Es kann und<lb/>
darf die Fliegekunst nicht für ewig dem Menschen versagt<lb/>
sein.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Wer Gelegenheit hatte, seine Naturbeobachtung auch auf<lb/>
jene gro&#x017F;sen Vögel auszudehnen, welche mit langsamen Flügel-<lb/>
schlägen und oft mit nur ausgebreiteten Schwingen segelnd<lb/>
das Luftreich durchmessen, wem es gar vergönnt war, die<lb/>
gro&#x017F;sen Flieger des hohen Meeres aus unmittelbarer Nähe bei<lb/>
ihrem Fluge zu betrachten, sich an der Schönheit und Voll-<lb/>
endung ihrer Bewegungen zu weiden, über die Sicherheit in<lb/>
der Wirkung ihres Flugapparates zu staunen, wer endlich aus<lb/>
der Ruhe dieser Bewegungen die mä&#x017F;sige Anstrengung zu er-<lb/>
kennen und aus der helfenden Wirkung des Windes auf den<lb/>
für solches Fliegen erforderlichen geringen Kraftaufwand zu<lb/>
schlie&#x017F;sen vermag, der wird auch die Zeit nicht mehr fern<lb/>
wähnen, wo unsere Erkenntnis die nötige Reife erlangt haben<lb/>
wird, auch jene Vorgänge richtig zu erklären, und dadurch<lb/>
den Bann zu brechen, welcher uns bis jetzt hinderte, auch<lb/>
nur ein einziges Mal zu freiem Fluge unseren Fu&#x017F;s von der<lb/>
Erde zu lösen.</p><lb/>
        <p>Aber nicht unser Wunsch allein soll es sein, den Vögeln<lb/>
ihre Kunst abzulauschen, nein, unsere Pflicht ist es, nicht eher<lb/>
zu ruhen, als bis wir die volle wissenschaftliche Klarheit<lb/>
über die Vorgänge des Fliegens erlangt haben. Sei es nun,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[2/0018] Soll dieses schmerzliche Bewuſstsein durch die traurige Gewiſsheit noch vermehrt werden, daſs es uns nie und nimmer gelingen wird, dem Vogel seine Fliegekunst abzulauschen? Oder wird es in der Macht des menschlichen Verstandes liegen, jene Mittel zu ergründen, welche uns zu ersetzen ver- mögen, was die Natur uns versagte? Bewiesen ist bis jetzt weder das Eine noch das Andere, aber wir nehmen mit Genugthuung wahr, daſs die Zahl der- jenigen Männer stetig wächst, welche es sich zur ernsten Aufgabe gemacht haben, mehr Licht über dieses noch so dunkle Gebiet unseres Wissens zu verbreiten. Die Beobachtung der Natur ist es, welche immer und immer wieder dem Gedanken Nahrung giebt: „Es kann und darf die Fliegekunst nicht für ewig dem Menschen versagt sein.“ Wer Gelegenheit hatte, seine Naturbeobachtung auch auf jene groſsen Vögel auszudehnen, welche mit langsamen Flügel- schlägen und oft mit nur ausgebreiteten Schwingen segelnd das Luftreich durchmessen, wem es gar vergönnt war, die groſsen Flieger des hohen Meeres aus unmittelbarer Nähe bei ihrem Fluge zu betrachten, sich an der Schönheit und Voll- endung ihrer Bewegungen zu weiden, über die Sicherheit in der Wirkung ihres Flugapparates zu staunen, wer endlich aus der Ruhe dieser Bewegungen die mäſsige Anstrengung zu er- kennen und aus der helfenden Wirkung des Windes auf den für solches Fliegen erforderlichen geringen Kraftaufwand zu schlieſsen vermag, der wird auch die Zeit nicht mehr fern wähnen, wo unsere Erkenntnis die nötige Reife erlangt haben wird, auch jene Vorgänge richtig zu erklären, und dadurch den Bann zu brechen, welcher uns bis jetzt hinderte, auch nur ein einziges Mal zu freiem Fluge unseren Fuſs von der Erde zu lösen. Aber nicht unser Wunsch allein soll es sein, den Vögeln ihre Kunst abzulauschen, nein, unsere Pflicht ist es, nicht eher zu ruhen, als bis wir die volle wissenschaftliche Klarheit über die Vorgänge des Fliegens erlangt haben. Sei es nun,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lilienthal_vogelflug_1889
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lilienthal_vogelflug_1889/18
Zitationshilfe: Lilienthal, Otto: Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst. Ein Beitrag zur Systematik der Flugtechnik. Berlin, 1889, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lilienthal_vogelflug_1889/18>, abgerufen am 24.11.2024.