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Liliencron, Detlev von: Adjutantenritte und andere Gedichte. Leipzig, [1883].

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Hochsommer im Walde.


"Kein Mittagessen fünf Tage schon.
Die Heimat so weit, kein Geld und kein Lohn,
Statt Arbeit zu finden, nur Hunger und Not,
Nur wandern und betteln und kaum ein Stück Brot."
Was biegt der Handwerksbursch in den Wald?
Was läuft ihm übers Gesicht so kalt?
Was sieht er trostlos in den Raum?
Was irrt sein Auge von Baum zu Baum?
Die Sonne sinkt und Stille ringsum,
Die Drossel nur lärmt noch, sonst Alles stumm.
Was schaukelt der Erlbaum am Waldesrand?
In seinen Ästen ein Mensch verschwand.
Von seinem ärmlichen Bündel den Strick,
Er legt um den Hals ihn, um Wirbel, Genick,
Dann läßt er sich fallen -- nur kurz ist die Qual,
Er sah die Sonne zum letzten Mal.
Der Tau fällt auf ihn, der Tag erwacht,
Der Pirol flötet, der Tauber lacht.
Es lebt und webt, als wär' nichts geschehn,
Gleichgültig wispern die Winde und wehn.
Ein Jäger kommt den Hügel herab,
Und sieht den Erhängten und schneidet ihn ab.
Und macht der Behörde die Anzeige schnell,
Gendarmen und Träger sind bald zur Stell'.
In hellen Glaces ein Herr vom Gericht,
Der prüft, ob kein Raubmord, wie das seine Pflicht.
Sie tragen den Leichnam ins Siechenhaus,
Und dann, wo kein Kreuz steht, ins Feld hinaus.

5*
Hochſommer im Walde.


Kein Mittageſſen fünf Tage ſchon.
Die Heimat ſo weit, kein Geld und kein Lohn,
Statt Arbeit zu finden, nur Hunger und Not,
Nur wandern und betteln und kaum ein Stück Brot.“
Was biegt der Handwerksburſch in den Wald?
Was läuft ihm übers Geſicht ſo kalt?
Was ſieht er troſtlos in den Raum?
Was irrt ſein Auge von Baum zu Baum?
Die Sonne ſinkt und Stille ringsum,
Die Droſſel nur lärmt noch, ſonſt Alles ſtumm.
Was ſchaukelt der Erlbaum am Waldesrand?
In ſeinen Äſten ein Menſch verſchwand.
Von ſeinem ärmlichen Bündel den Strick,
Er legt um den Hals ihn, um Wirbel, Genick,
Dann läßt er ſich fallen — nur kurz iſt die Qual,
Er ſah die Sonne zum letzten Mal.
Der Tau fällt auf ihn, der Tag erwacht,
Der Pirol flötet, der Tauber lacht.
Es lebt und webt, als wär’ nichts geſchehn,
Gleichgültig wispern die Winde und wehn.
Ein Jäger kommt den Hügel herab,
Und ſieht den Erhängten und ſchneidet ihn ab.
Und macht der Behörde die Anzeige ſchnell,
Gendarmen und Träger ſind bald zur Stell’.
In hellen Glacés ein Herr vom Gericht,
Der prüft, ob kein Raubmord, wie das ſeine Pflicht.
Sie tragen den Leichnam ins Siechenhaus,
Und dann, wo kein Kreuz ſteht, ins Feld hinaus.

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[67/0075] Hochſommer im Walde. „Kein Mittageſſen fünf Tage ſchon. Die Heimat ſo weit, kein Geld und kein Lohn, Statt Arbeit zu finden, nur Hunger und Not, Nur wandern und betteln und kaum ein Stück Brot.“ Was biegt der Handwerksburſch in den Wald? Was läuft ihm übers Geſicht ſo kalt? Was ſieht er troſtlos in den Raum? Was irrt ſein Auge von Baum zu Baum? Die Sonne ſinkt und Stille ringsum, Die Droſſel nur lärmt noch, ſonſt Alles ſtumm. Was ſchaukelt der Erlbaum am Waldesrand? In ſeinen Äſten ein Menſch verſchwand. Von ſeinem ärmlichen Bündel den Strick, Er legt um den Hals ihn, um Wirbel, Genick, Dann läßt er ſich fallen — nur kurz iſt die Qual, Er ſah die Sonne zum letzten Mal. Der Tau fällt auf ihn, der Tag erwacht, Der Pirol flötet, der Tauber lacht. Es lebt und webt, als wär’ nichts geſchehn, Gleichgültig wispern die Winde und wehn. Ein Jäger kommt den Hügel herab, Und ſieht den Erhängten und ſchneidet ihn ab. Und macht der Behörde die Anzeige ſchnell, Gendarmen und Träger ſind bald zur Stell’. In hellen Glacés ein Herr vom Gericht, Der prüft, ob kein Raubmord, wie das ſeine Pflicht. Sie tragen den Leichnam ins Siechenhaus, Und dann, wo kein Kreuz ſteht, ins Feld hinaus. 5*

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Zitationshilfe: Liliencron, Detlev von: Adjutantenritte und andere Gedichte. Leipzig, [1883], S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liliencron_adjutantenritte_1883/75>, abgerufen am 29.03.2024.