Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

Bild:
<< vorherige Seite

den Pflichten versäumt hat, kann nicht anders erklärt werden, als durch
den bekannten "mit Gold beladenen Esel", dem erwiesenermaßen so ziem-
lich alle russischen Siege in allen Türkenkriegen zu verdanken sind.

Der russische Rubel stand nicht allein. Er wurde trefflich unter-
stützt von der europäischen Diplomatie. Daß die deutsche
Regierung, blind für die hundertfach konstatirten Bestialitäten der Russen,
auf Grund des vereinzelten Berichts eines preußischen Offiziers im
russischen Hauptquartier einen "Humanitätsfeldzug" gegen die Türkei
eröffnete, und den betreffenden Offizier, der so "neutral" war, daß er
beim dritten Sturm auf Plewna rumänische Soldaten in's Feuer trieb,
mit dem Verdienstorden dotirte -- das setze ich als bekannt voraus.
Nicht minder bekannt ist, daß Serbien, welches den bei Plewna
dreimal geschlagenen Russen schließlich zum Sieg verhelfen mußte, im
Herbst 1876 bloß durch die Jntervention der europäischen Diplomatie
vor einer gründlichen und wohlverdienten Züchtigung bewahrt wurde,
die es außer Stand gesetzt hätte, dem geschlagenen Rußland je Dienste
zu leisten. Unzähliger anderer Knüppel nicht zu erwähnen, welche die
"neutrale" Diplomatie den Türken in die Radspeichen geworfen.

Mit den russischen Humanitäts- und Civilisations-
Phrasen befasse ich mich hier nicht. Die barbarische, das Völker- und
Menschenrecht mit Füßen tretende, brutal grausame Kriegführung der
Russen hat sie gründlicher widerlegt, als ich es zu thun vermöchte.

Aber "die unterdrückten Nationalitäten"! Die "frei-
heitsdürstenden Südslaven
"! Die "christlichen Brüder"!
Bah! Vogelleim für die Gimpel. Vom "Nationalitätsprinzip" gilt das
famose Wort Robespierre's: "es ist von Schurken erfunden, um
Dummköpfe zu nasführen." Das "Nationalitätsprinzip" spricht der
Wissenschaft (von der Religion gar nicht zu reden) gleichmäßig
Hohn wie der Humanität und Gerechtigkeit: es ist das bequemste
Mittel der Despoten, um die Völker zu spalten, nach dem Grundsatz des
divide et impera (theile und herrsche!). Das "Nationalitätsprinzip"
theilt, trennt die Völker, bringt sie unter das Joch ihrer gemein-
samen Feinde. Das sozialistische, demokratische Prinzip der Gleich-
heit,
der Gleichberechtigung, der Solidarität dagegen
einigt die Menschen, einigt die Völker.

Und wie kann Rußland, an dessen Händen das Blut des ge-
mordeten Polen, des gemordeten Cirkassien, so vieler gemordeten, und
doch der Auferstehung sicheren Völker klebt, sich als Vertreter des "Na-
tionalitätsprinzips" aufwerfen?

Mit dem Schwert, womit es gemordet, wird und muß es ge richtet
werden. Ein freies Westeuropa wird die Wiederherstellung Polens,
die Freiheit aller, vom russischen Czarenthum "unterdrückten"

den Pflichten verſäumt hat, kann nicht anders erklärt werden, als durch
den bekannten „mit Gold beladenen Eſel‟, dem erwieſenermaßen ſo ziem-
lich alle ruſſiſchen Siege in allen Türkenkriegen zu verdanken ſind.

Der ruſſiſche Rubel ſtand nicht allein. Er wurde trefflich unter-
ſtützt von der europäiſchen Diplomatie. Daß die deutſche
Regierung, blind für die hundertfach konſtatirten Beſtialitäten der Ruſſen,
auf Grund des vereinzelten Berichts eines preußiſchen Offiziers im
ruſſiſchen Hauptquartier einen „Humanitätsfeldzug‟ gegen die Türkei
eröffnete, und den betreffenden Offizier, der ſo „neutral‟ war, daß er
beim dritten Sturm auf Plewna rumäniſche Soldaten in’s Feuer trieb,
mit dem Verdienſtorden dotirte — das ſetze ich als bekannt voraus.
Nicht minder bekannt iſt, daß Serbien, welches den bei Plewna
dreimal geſchlagenen Ruſſen ſchließlich zum Sieg verhelfen mußte, im
Herbſt 1876 bloß durch die Jntervention der europäiſchen Diplomatie
vor einer gründlichen und wohlverdienten Züchtigung bewahrt wurde,
die es außer Stand geſetzt hätte, dem geſchlagenen Rußland je Dienſte
zu leiſten. Unzähliger anderer Knüppel nicht zu erwähnen, welche die
„neutrale‟ Diplomatie den Türken in die Radſpeichen geworfen.

Mit den ruſſiſchen Humanitäts- und Civiliſations-
Phraſen befaſſe ich mich hier nicht. Die barbariſche, das Völker- und
Menſchenrecht mit Füßen tretende, brutal grauſame Kriegführung der
Ruſſen hat ſie gründlicher widerlegt, als ich es zu thun vermöchte.

Aber „die unterdrückten Nationalitäten‟! Die „frei-
heitsdürſtenden Südſlaven
‟! Die „chriſtlichen Brüder‟!
Bah! Vogelleim für die Gimpel. Vom „Nationalitätsprinzip‟ gilt das
famoſe Wort Robespierre’s: „es iſt von Schurken erfunden, um
Dummköpfe zu nasführen.‟ Das „Nationalitätsprinzip‟ ſpricht der
Wiſſenſchaft (von der Religion gar nicht zu reden) gleichmäßig
Hohn wie der Humanität und Gerechtigkeit: es iſt das bequemſte
Mittel der Deſpoten, um die Völker zu ſpalten, nach dem Grundſatz des
divide et impera (theile und herrſche!). Das „Nationalitätsprinzip‟
theilt, trennt die Völker, bringt ſie unter das Joch ihrer gemein-
ſamen Feinde. Das ſozialiſtiſche, demokratiſche Prinzip der Gleich-
heit,
der Gleichberechtigung, der Solidarität dagegen
einigt die Menſchen, einigt die Völker.

Und wie kann Rußland, an deſſen Händen das Blut des ge-
mordeten Polen, des gemordeten Cirkaſſien, ſo vieler gemordeten, und
doch der Auferſtehung ſicheren Völker klebt, ſich als Vertreter des „Na-
tionalitätsprinzips‟ aufwerfen?

Mit dem Schwert, womit es gemordet, wird und muß es ge richtet
werden. Ein freies Weſteuropa wird die Wiederherſtellung Polens,
die Freiheit aller, vom ruſſiſchen Czarenthum „unterdrückten‟

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0047" n="43"/>
den Pflichten ver&#x017F;äumt hat, kann nicht anders erklärt werden, als durch<lb/>
den bekannten &#x201E;mit Gold beladenen E&#x017F;el&#x201F;, dem erwie&#x017F;enermaßen &#x017F;o ziem-<lb/>
lich alle ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Siege in allen Türkenkriegen zu verdanken &#x017F;ind.</p><lb/>
          <p>Der ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;che Rubel &#x017F;tand nicht allein. Er wurde trefflich unter-<lb/>
&#x017F;tützt von der <hi rendition="#g">europäi&#x017F;chen Diplomatie.</hi> Daß die <hi rendition="#g">deut&#x017F;che</hi><lb/>
Regierung, blind für die hundertfach kon&#x017F;tatirten Be&#x017F;tialitäten der Ru&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
auf Grund des vereinzelten Berichts eines preußi&#x017F;chen Offiziers im<lb/>
ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Hauptquartier einen &#x201E;Humanitätsfeldzug&#x201F; gegen die Türkei<lb/>
eröffnete, und den betreffenden Offizier, der &#x017F;o &#x201E;neutral&#x201F; war, daß er<lb/>
beim dritten Sturm auf Plewna rumäni&#x017F;che Soldaten in&#x2019;s Feuer trieb,<lb/>
mit dem Verdien&#x017F;torden dotirte &#x2014; das &#x017F;etze ich als bekannt voraus.<lb/>
Nicht minder bekannt i&#x017F;t, daß <hi rendition="#g">Serbien,</hi> welches den bei Plewna<lb/>
dreimal ge&#x017F;chlagenen Ru&#x017F;&#x017F;en &#x017F;chließlich zum Sieg verhelfen mußte, im<lb/>
Herb&#x017F;t 1876 bloß durch die Jntervention der europäi&#x017F;chen Diplomatie<lb/>
vor einer gründlichen und wohlverdienten Züchtigung bewahrt wurde,<lb/>
die es außer Stand ge&#x017F;etzt hätte, dem ge&#x017F;chlagenen Rußland je Dien&#x017F;te<lb/>
zu lei&#x017F;ten. Unzähliger anderer Knüppel nicht zu erwähnen, welche die<lb/>
&#x201E;neutrale&#x201F; Diplomatie den Türken in die Rad&#x017F;peichen geworfen.</p><lb/>
          <p>Mit den ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen <hi rendition="#g">Humanitäts-</hi> und <hi rendition="#g">Civili&#x017F;ations-</hi><lb/>
Phra&#x017F;en befa&#x017F;&#x017F;e ich mich hier nicht. Die barbari&#x017F;che, das Völker- und<lb/>
Men&#x017F;chenrecht mit Füßen tretende, brutal grau&#x017F;ame Kriegführung der<lb/>
Ru&#x017F;&#x017F;en hat &#x017F;ie gründlicher widerlegt, als ich es zu thun vermöchte.</p><lb/>
          <p>Aber &#x201E;die <hi rendition="#g">unterdrückten Nationalitäten</hi>&#x201F;! Die &#x201E;<hi rendition="#g">frei-<lb/>
heitsdür&#x017F;tenden Süd&#x017F;laven</hi>&#x201F;! Die &#x201E;<hi rendition="#g">chri&#x017F;tlichen Brüder</hi>&#x201F;!<lb/>
Bah! Vogelleim für die Gimpel. Vom &#x201E;Nationalitätsprinzip&#x201F; gilt das<lb/>
famo&#x017F;e Wort <hi rendition="#g">Robespierre&#x2019;s:</hi> &#x201E;es i&#x017F;t von Schurken erfunden, um<lb/>
Dummköpfe zu nasführen.&#x201F; Das &#x201E;Nationalitätsprinzip&#x201F; &#x017F;pricht der<lb/><hi rendition="#g">Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft</hi> (von der <hi rendition="#g">Religion</hi> gar nicht zu reden) gleichmäßig<lb/>
Hohn wie der <hi rendition="#g">Humanität</hi> und <hi rendition="#g">Gerechtigkeit:</hi> es i&#x017F;t das bequem&#x017F;te<lb/>
Mittel der De&#x017F;poten, um die Völker zu &#x017F;palten, nach dem Grund&#x017F;atz des<lb/><hi rendition="#aq">divide et impera</hi> (theile und herr&#x017F;che!). Das &#x201E;Nationalitätsprinzip&#x201F;<lb/><hi rendition="#g">theilt, trennt</hi> die Völker, bringt &#x017F;ie unter das Joch ihrer gemein-<lb/>
&#x017F;amen Feinde. Das &#x017F;oziali&#x017F;ti&#x017F;che, demokrati&#x017F;che Prinzip der <hi rendition="#g">Gleich-<lb/>
heit,</hi> der <hi rendition="#g">Gleichberechtigung,</hi> der <hi rendition="#g">Solidarität</hi> dagegen<lb/><hi rendition="#g">einigt</hi> die Men&#x017F;chen, <hi rendition="#g">einigt</hi> die Völker.</p><lb/>
          <p>Und wie kann <hi rendition="#g">Rußland,</hi> an de&#x017F;&#x017F;en Händen das Blut des ge-<lb/>
mordeten Polen, des gemordeten Cirka&#x017F;&#x017F;ien, &#x017F;o vieler gemordeten, und<lb/>
doch der Aufer&#x017F;tehung &#x017F;icheren Völker klebt, &#x017F;ich als Vertreter des &#x201E;Na-<lb/>
tionalitätsprinzips&#x201F; aufwerfen?</p><lb/>
          <p>Mit dem Schwert, womit es gemordet, wird und muß es ge richtet<lb/>
werden. Ein <hi rendition="#g">freies</hi> We&#x017F;teuropa wird die <hi rendition="#g">Wiederher&#x017F;tellung Polens,</hi><lb/>
die Freiheit aller, vom <hi rendition="#g">ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Czarenthum</hi> &#x201E;unterdrückten&#x201F;<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[43/0047] den Pflichten verſäumt hat, kann nicht anders erklärt werden, als durch den bekannten „mit Gold beladenen Eſel‟, dem erwieſenermaßen ſo ziem- lich alle ruſſiſchen Siege in allen Türkenkriegen zu verdanken ſind. Der ruſſiſche Rubel ſtand nicht allein. Er wurde trefflich unter- ſtützt von der europäiſchen Diplomatie. Daß die deutſche Regierung, blind für die hundertfach konſtatirten Beſtialitäten der Ruſſen, auf Grund des vereinzelten Berichts eines preußiſchen Offiziers im ruſſiſchen Hauptquartier einen „Humanitätsfeldzug‟ gegen die Türkei eröffnete, und den betreffenden Offizier, der ſo „neutral‟ war, daß er beim dritten Sturm auf Plewna rumäniſche Soldaten in’s Feuer trieb, mit dem Verdienſtorden dotirte — das ſetze ich als bekannt voraus. Nicht minder bekannt iſt, daß Serbien, welches den bei Plewna dreimal geſchlagenen Ruſſen ſchließlich zum Sieg verhelfen mußte, im Herbſt 1876 bloß durch die Jntervention der europäiſchen Diplomatie vor einer gründlichen und wohlverdienten Züchtigung bewahrt wurde, die es außer Stand geſetzt hätte, dem geſchlagenen Rußland je Dienſte zu leiſten. Unzähliger anderer Knüppel nicht zu erwähnen, welche die „neutrale‟ Diplomatie den Türken in die Radſpeichen geworfen. Mit den ruſſiſchen Humanitäts- und Civiliſations- Phraſen befaſſe ich mich hier nicht. Die barbariſche, das Völker- und Menſchenrecht mit Füßen tretende, brutal grauſame Kriegführung der Ruſſen hat ſie gründlicher widerlegt, als ich es zu thun vermöchte. Aber „die unterdrückten Nationalitäten‟! Die „frei- heitsdürſtenden Südſlaven‟! Die „chriſtlichen Brüder‟! Bah! Vogelleim für die Gimpel. Vom „Nationalitätsprinzip‟ gilt das famoſe Wort Robespierre’s: „es iſt von Schurken erfunden, um Dummköpfe zu nasführen.‟ Das „Nationalitätsprinzip‟ ſpricht der Wiſſenſchaft (von der Religion gar nicht zu reden) gleichmäßig Hohn wie der Humanität und Gerechtigkeit: es iſt das bequemſte Mittel der Deſpoten, um die Völker zu ſpalten, nach dem Grundſatz des divide et impera (theile und herrſche!). Das „Nationalitätsprinzip‟ theilt, trennt die Völker, bringt ſie unter das Joch ihrer gemein- ſamen Feinde. Das ſozialiſtiſche, demokratiſche Prinzip der Gleich- heit, der Gleichberechtigung, der Solidarität dagegen einigt die Menſchen, einigt die Völker. Und wie kann Rußland, an deſſen Händen das Blut des ge- mordeten Polen, des gemordeten Cirkaſſien, ſo vieler gemordeten, und doch der Auferſtehung ſicheren Völker klebt, ſich als Vertreter des „Na- tionalitätsprinzips‟ aufwerfen? Mit dem Schwert, womit es gemordet, wird und muß es ge richtet werden. Ein freies Weſteuropa wird die Wiederherſtellung Polens, die Freiheit aller, vom ruſſiſchen Czarenthum „unterdrückten‟

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/47
Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/47>, abgerufen am 21.11.2024.