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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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Zweite Thatsache: Ohne die famose "Rückendeckung"
durch das deutsche Reich, die in der Sprache unseres
Reichskanzlers "Neutralität" heißt, hätte Rußland
den Krieg nicht führen können
.

Abgesehen von Jtalien, das nicht zählt -- sind sämmtliche euro-
päische Mächte, außer Deutschland, zweifellos Gegner der russischen
Politik. Warum haben sie trotzdem den Krieg ruhig vom Zaun brechen
lassen? Einfach, weil sie durch die Bismarck'sche Politik lahm gelegt
wurden. Der österreichischen Regierung wurde die Schlinge des "Drei-
kanzlerbündnisses" um den Hals geworfen, und was diese Schlinge nicht
bewirkte, das bewirkte die Angst vor einem "kühnen Griff" nach Wien
und Deutsch-Oesterreich. Frankreich empfing aus Berlin einen "Strahl
kalten Wassers" nach dem anderen, und mußte dem schwierigen Problem,
einen Krieg mit Deutschland zu vermeiden, seine ganze Aufmerksamkeit
zuwenden. England konnte für sich allein nicht zur Aktion schreiten.

Aus obigen zwei Thatsachen folgert nun die dritte Thatsache,
daß jetzt, -- nachdem zum Mindesten zwei der genannten drei Mächte
den Willen zu erkennen gegeben haben, Rußland nicht länger "freie
Hand" zu gewähren, -- ein europäischer Krieg nur dann
zu befürchten ist, wenn Fürst Bismarck direkt auf Sei-
ten Rußlands tritt
.

Trotz der notorischen russischen Sympathien unseres Reichskanzlers
glauben wir nicht, daß er freiwillig und gern Rußland in der bis-
herigen Weise unterstützt hat: die Dienste, welche er dem "Erbfreund"
geleistet, waren die nothwendigen Konsequenzen der Blut- und Eisen-
volitik von 1866 und 1870/71. Verweigerte er Rußland die geheischte
Unterstützung, so drohte ihm eine russisch-französische Allianz.

Wohlan -- Dank der unerwarteten Widerstandskraft, welche
die Türkei, und der ebenso unerwarteten Schwäche, welche Ruß-
land
in diesem Kriege entwickelt hat, kann die Gefahr eines russisch-
französischen Bündnisses als beseitigt gelten. Und das ist ein großes
Glück für Deutschland und die Welt.

Unglücklicher Weise macht Fürst Bismarck keine
Miene, diesen Vortheil auszunutzen
. Jm Gegentheil: er
thut sein Mögliches, um das russische Prestige und die russische Macht
wieder herzustellen.

Wie das zu erklären ist: ob Fürst Bismarck sich irgend -- ge-
bunden hat, ob vielleicht die Affaire Benedetti zur Abwechselung
einmal umgedreht worden ist -- wir wissen es nicht.

Aber wir wissen, daß Fürst Bismarck noch immer auf's Eifrigste
die russische Politik unterstützt. Die Folge davon ist: an die Stelle
der Gefahr eines russisch-französischen Bündnisses

Zweite Thatſache: Ohne die famoſe „Rückendeckung‟
durch das deutſche Reich, die in der Sprache unſeres
Reichskanzlers „Neutralität‟ heißt, hätte Rußland
den Krieg nicht führen können
.

Abgeſehen von Jtalien, das nicht zählt — ſind ſämmtliche euro-
päiſche Mächte, außer Deutſchland, zweifellos Gegner der ruſſiſchen
Politik. Warum haben ſie trotzdem den Krieg ruhig vom Zaun brechen
laſſen? Einfach, weil ſie durch die Bismarck’ſche Politik lahm gelegt
wurden. Der öſterreichiſchen Regierung wurde die Schlinge des „Drei-
kanzlerbündniſſes‟ um den Hals geworfen, und was dieſe Schlinge nicht
bewirkte, das bewirkte die Angſt vor einem „kühnen Griff‟ nach Wien
und Deutſch-Oeſterreich. Frankreich empfing aus Berlin einen „Strahl
kalten Waſſers‟ nach dem anderen, und mußte dem ſchwierigen Problem,
einen Krieg mit Deutſchland zu vermeiden, ſeine ganze Aufmerkſamkeit
zuwenden. England konnte für ſich allein nicht zur Aktion ſchreiten.

Aus obigen zwei Thatſachen folgert nun die dritte Thatſache,
daß jetzt, — nachdem zum Mindeſten zwei der genannten drei Mächte
den Willen zu erkennen gegeben haben, Rußland nicht länger „freie
Hand‟ zu gewähren, — ein europäiſcher Krieg nur dann
zu befürchten iſt, wenn Fürſt Bismarck direkt auf Sei-
ten Rußlands tritt
.

Trotz der notoriſchen ruſſiſchen Sympathien unſeres Reichskanzlers
glauben wir nicht, daß er freiwillig und gern Rußland in der bis-
herigen Weiſe unterſtützt hat: die Dienſte, welche er dem „Erbfreund‟
geleiſtet, waren die nothwendigen Konſequenzen der Blut- und Eiſen-
volitik von 1866 und 1870/71. Verweigerte er Rußland die geheiſchte
Unterſtützung, ſo drohte ihm eine ruſſiſch-franzöſiſche Allianz.

Wohlan — Dank der unerwarteten Widerſtandskraft, welche
die Türkei, und der ebenſo unerwarteten Schwäche, welche Ruß-
land
in dieſem Kriege entwickelt hat, kann die Gefahr eines ruſſiſch-
franzöſiſchen Bündniſſes als beſeitigt gelten. Und das iſt ein großes
Glück für Deutſchland und die Welt.

Unglücklicher Weiſe macht Fürſt Bismarck keine
Miene, dieſen Vortheil auszunutzen
. Jm Gegentheil: er
thut ſein Mögliches, um das ruſſiſche Preſtige und die ruſſiſche Macht
wieder herzuſtellen.

Wie das zu erklären iſt: ob Fürſt Bismarck ſich irgend — ge-
bunden hat, ob vielleicht die Affaire Benedetti zur Abwechſelung
einmal umgedreht worden iſt — wir wiſſen es nicht.

Aber wir wiſſen, daß Fürſt Bismarck noch immer auf’s Eifrigſte
die ruſſiſche Politik unterſtützt. Die Folge davon iſt: an die Stelle
der Gefahr eines ruſſiſch-franzöſiſchen Bündniſſes

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[28/0032] Zweite Thatſache: Ohne die famoſe „Rückendeckung‟ durch das deutſche Reich, die in der Sprache unſeres Reichskanzlers „Neutralität‟ heißt, hätte Rußland den Krieg nicht führen können. Abgeſehen von Jtalien, das nicht zählt — ſind ſämmtliche euro- päiſche Mächte, außer Deutſchland, zweifellos Gegner der ruſſiſchen Politik. Warum haben ſie trotzdem den Krieg ruhig vom Zaun brechen laſſen? Einfach, weil ſie durch die Bismarck’ſche Politik lahm gelegt wurden. Der öſterreichiſchen Regierung wurde die Schlinge des „Drei- kanzlerbündniſſes‟ um den Hals geworfen, und was dieſe Schlinge nicht bewirkte, das bewirkte die Angſt vor einem „kühnen Griff‟ nach Wien und Deutſch-Oeſterreich. Frankreich empfing aus Berlin einen „Strahl kalten Waſſers‟ nach dem anderen, und mußte dem ſchwierigen Problem, einen Krieg mit Deutſchland zu vermeiden, ſeine ganze Aufmerkſamkeit zuwenden. England konnte für ſich allein nicht zur Aktion ſchreiten. Aus obigen zwei Thatſachen folgert nun die dritte Thatſache, daß jetzt, — nachdem zum Mindeſten zwei der genannten drei Mächte den Willen zu erkennen gegeben haben, Rußland nicht länger „freie Hand‟ zu gewähren, — ein europäiſcher Krieg nur dann zu befürchten iſt, wenn Fürſt Bismarck direkt auf Sei- ten Rußlands tritt. Trotz der notoriſchen ruſſiſchen Sympathien unſeres Reichskanzlers glauben wir nicht, daß er freiwillig und gern Rußland in der bis- herigen Weiſe unterſtützt hat: die Dienſte, welche er dem „Erbfreund‟ geleiſtet, waren die nothwendigen Konſequenzen der Blut- und Eiſen- volitik von 1866 und 1870/71. Verweigerte er Rußland die geheiſchte Unterſtützung, ſo drohte ihm eine ruſſiſch-franzöſiſche Allianz. Wohlan — Dank der unerwarteten Widerſtandskraft, welche die Türkei, und der ebenſo unerwarteten Schwäche, welche Ruß- land in dieſem Kriege entwickelt hat, kann die Gefahr eines ruſſiſch- franzöſiſchen Bündniſſes als beſeitigt gelten. Und das iſt ein großes Glück für Deutſchland und die Welt. Unglücklicher Weiſe macht Fürſt Bismarck keine Miene, dieſen Vortheil auszunutzen. Jm Gegentheil: er thut ſein Mögliches, um das ruſſiſche Preſtige und die ruſſiſche Macht wieder herzuſtellen. Wie das zu erklären iſt: ob Fürſt Bismarck ſich irgend — ge- bunden hat, ob vielleicht die Affaire Benedetti zur Abwechſelung einmal umgedreht worden iſt — wir wiſſen es nicht. Aber wir wiſſen, daß Fürſt Bismarck noch immer auf’s Eifrigſte die ruſſiſche Politik unterſtützt. Die Folge davon iſt: an die Stelle der Gefahr eines ruſſiſch-franzöſiſchen Bündniſſes

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/32>, abgerufen am 23.11.2024.