In dem Thierei, in dem Samen einer Pflanze erkennen wir eine merkwürdige Thätigkeit, eine Ursache der Zunahme an Masse, des Ersatzes an verbrauchtem Stoff, eine Kraft in dem Zustande der Ruhe. Durch äußere Bedingungen, durch die Begattung, durch Gegenwart von Feuchtigkeit und Luft wird der Zustand des statischen Gleichgewichtes dieser Thätigkeit aufge- hoben; die in Bewegung übergehende Kraft äußert sich in einer Reihe von Formbildungen, welche, wenn auch zuweilen durch grade Linien eingeschlossen, doch weit entfernt von geometri- schen Gestalten sind, so wie wir sie beim krystallisirenden Minerale beobachten. Diese Kraft heißt Lebenskraft.
Die Zunahme an Masse in einer Pflanze wird durch den Akt einer Zersetzung bedingt, die in gewissen Pflanzenthei- len durch die Einwirkung des Lichts und der Wärme vor sich geht.
Dieser Zersetzung unterliegen in dem Lebensproceß der Pflanze ausschließlich nur anorganische Materien, und wenn man mit ausgezeichneten Mineralogen die Luft und gewisse andere Gase als Mineralien gelten läßt, so kann man sa- gen, daß die vegetative Lebensthätigkeit die Verwandlung
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I.
In dem Thierei, in dem Samen einer Pflanze erkennen wir eine merkwürdige Thätigkeit, eine Urſache der Zunahme an Maſſe, des Erſatzes an verbrauchtem Stoff, eine Kraft in dem Zuſtande der Ruhe. Durch äußere Bedingungen, durch die Begattung, durch Gegenwart von Feuchtigkeit und Luft wird der Zuſtand des ſtatiſchen Gleichgewichtes dieſer Thätigkeit aufge- hoben; die in Bewegung übergehende Kraft äußert ſich in einer Reihe von Formbildungen, welche, wenn auch zuweilen durch grade Linien eingeſchloſſen, doch weit entfernt von geometri- ſchen Geſtalten ſind, ſo wie wir ſie beim kryſtalliſirenden Minerale beobachten. Dieſe Kraft heißt Lebenskraft.
Die Zunahme an Maſſe in einer Pflanze wird durch den Akt einer Zerſetzung bedingt, die in gewiſſen Pflanzenthei- len durch die Einwirkung des Lichts und der Wärme vor ſich geht.
Dieſer Zerſetzung unterliegen in dem Lebensproceß der Pflanze ausſchließlich nur anorganiſche Materien, und wenn man mit ausgezeichneten Mineralogen die Luft und gewiſſe andere Gaſe als Mineralien gelten läßt, ſo kann man ſa- gen, daß die vegetative Lebensthätigkeit die Verwandlung
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I.
In dem Thierei, in dem Samen einer Pflanze erkennen
wir eine merkwürdige Thätigkeit, eine Urſache der Zunahme
an Maſſe, des Erſatzes an verbrauchtem Stoff, eine Kraft in
dem Zuſtande der Ruhe. Durch äußere Bedingungen, durch die
Begattung, durch Gegenwart von Feuchtigkeit und Luft wird
der Zuſtand des ſtatiſchen Gleichgewichtes dieſer Thätigkeit aufge-
hoben; die in Bewegung übergehende Kraft äußert ſich in einer
Reihe von Formbildungen, welche, wenn auch zuweilen durch
grade Linien eingeſchloſſen, doch weit entfernt von geometri-
ſchen Geſtalten ſind, ſo wie wir ſie beim kryſtalliſirenden
Minerale beobachten. Dieſe Kraft heißt Lebenskraft.
Die Zunahme an Maſſe in einer Pflanze wird durch den
Akt einer Zerſetzung bedingt, die in gewiſſen Pflanzenthei-
len durch die Einwirkung des Lichts und der Wärme vor
ſich geht.
Dieſer Zerſetzung unterliegen in dem Lebensproceß der
Pflanze ausſchließlich nur anorganiſche Materien, und wenn
man mit ausgezeichneten Mineralogen die Luft und gewiſſe
andere Gaſe als Mineralien gelten läßt, ſo kann man ſa-
gen, daß die vegetative Lebensthätigkeit die Verwandlung
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Liebig, Justus von: Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Physiologie und Pathologie. Braunschweig, 1842, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebig_physiologie_1842/25>, abgerufen am 24.11.2024.
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