Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Liebig, Justus von: Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie. Braunschweig, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

Gift, Contagien, Miasmen.
eine Veränderung im Blute, in Folge welcher sich aus seinen
Bestandtheilen wieder Blatterngift erzeugt. Dieser Metamor-
phose wird erst durch die gänzliche Verwandlung aller der
Zersetzung fähigen Bluttheilchen eine Grenze gesetzt. Durch
den Contact der Oxalsäure mit Oxamid entsteht Oxalsäure,
welche auf neues Oxamid die nämliche Wirkung ausübt. Nur
die begrenzte Menge des Oxamids setzt dieser Metamorphose
eine Grenze. Der Form nach gehören beide Metamorphosen
in einerlei Klasse; aber nur ein befangenes Auge wird diesem
Vorgang, obwohl er ein scharfer Ausdruck des gegebenen Be-
griffs vom Leben ist, eine lebendige Thätigkeit unterlegen; es ist
ein chemischer Proceß, abhängig von den gewöhnlichen chemi-
schen Kräften.

Der Begriff von Leben schließt neben Reproduction noch
einen andern ein, nämlich den Begriff von Thätigkeit durch
eine bestimmte Form
, das Entstehen und Erzeugen in
einer
bestimmten Form. Man wird im Stande sein, die
Bestandtheile der Muskelfaser, der Haut, der Haare etc. durch
chemische Kräfte hervorzubringen; allein kein Haar, keine Mus-
kelfaser, keine Zelle kann durch sie gebildet werden. Die Her-
vorbringung von Organen, das Zusammenwirken eines Appa-
rates von Organen, ihre Fähigkeit aus den dargebotenen Nah-
rungsstoffen, nicht nur ihre eigenen Bestandtheile, sondern sich
selbst
der Form, Beschaffenheit und mit allen ihren Eigen-
schaften wieder zu erzeugen, dieß ist der Character des orga-
nischen Lebens, diese Form der Reproduction ist unabhängig
von den chemischen Kräften.

Die chemischen Kräfte sind der unanschaubaren Ursache, durch
welche diese Form bedingt wird, unterthan; sie selbst, diese
Ursache, wir haben nur Kenntniß von ihrer Existenz durch
die eigenthümlichen Erscheinungen, die sie hervorbringt; wir

Gift, Contagien, Miasmen.
eine Veränderung im Blute, in Folge welcher ſich aus ſeinen
Beſtandtheilen wieder Blatterngift erzeugt. Dieſer Metamor-
phoſe wird erſt durch die gänzliche Verwandlung aller der
Zerſetzung fähigen Bluttheilchen eine Grenze geſetzt. Durch
den Contact der Oxalſäure mit Oxamid entſteht Oxalſäure,
welche auf neues Oxamid die nämliche Wirkung ausübt. Nur
die begrenzte Menge des Oxamids ſetzt dieſer Metamorphoſe
eine Grenze. Der Form nach gehören beide Metamorphoſen
in einerlei Klaſſe; aber nur ein befangenes Auge wird dieſem
Vorgang, obwohl er ein ſcharfer Ausdruck des gegebenen Be-
griffs vom Leben iſt, eine lebendige Thätigkeit unterlegen; es iſt
ein chemiſcher Proceß, abhängig von den gewöhnlichen chemi-
ſchen Kräften.

Der Begriff von Leben ſchließt neben Reproduction noch
einen andern ein, nämlich den Begriff von Thätigkeit durch
eine beſtimmte Form
, das Entſtehen und Erzeugen in
einer
beſtimmten Form. Man wird im Stande ſein, die
Beſtandtheile der Muskelfaſer, der Haut, der Haare ꝛc. durch
chemiſche Kräfte hervorzubringen; allein kein Haar, keine Mus-
kelfaſer, keine Zelle kann durch ſie gebildet werden. Die Her-
vorbringung von Organen, das Zuſammenwirken eines Appa-
rates von Organen, ihre Fähigkeit aus den dargebotenen Nah-
rungsſtoffen, nicht nur ihre eigenen Beſtandtheile, ſondern ſich
ſelbſt
der Form, Beſchaffenheit und mit allen ihren Eigen-
ſchaften wieder zu erzeugen, dieß iſt der Character des orga-
niſchen Lebens, dieſe Form der Reproduction iſt unabhängig
von den chemiſchen Kräften.

Die chemiſchen Kräfte ſind der unanſchaubaren Urſache, durch
welche dieſe Form bedingt wird, unterthan; ſie ſelbſt, dieſe
Urſache, wir haben nur Kenntniß von ihrer Exiſtenz durch
die eigenthümlichen Erſcheinungen, die ſie hervorbringt; wir

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0338" n="320"/><fw place="top" type="header">Gift, Contagien, Miasmen.</fw><lb/>
eine Veränderung im Blute, in Folge welcher &#x017F;ich aus &#x017F;einen<lb/>
Be&#x017F;tandtheilen wieder Blatterngift erzeugt. Die&#x017F;er Metamor-<lb/>
pho&#x017F;e wird er&#x017F;t durch die gänzliche Verwandlung aller der<lb/>
Zer&#x017F;etzung fähigen Bluttheilchen eine Grenze ge&#x017F;etzt. Durch<lb/>
den Contact der Oxal&#x017F;äure mit Oxamid ent&#x017F;teht Oxal&#x017F;äure,<lb/>
welche auf neues Oxamid die nämliche Wirkung ausübt. Nur<lb/>
die begrenzte Menge des Oxamids &#x017F;etzt die&#x017F;er Metamorpho&#x017F;e<lb/>
eine Grenze. Der Form nach gehören beide Metamorpho&#x017F;en<lb/>
in einerlei Kla&#x017F;&#x017F;e; aber nur ein befangenes Auge wird die&#x017F;em<lb/>
Vorgang, obwohl er ein &#x017F;charfer Ausdruck des gegebenen Be-<lb/>
griffs vom Leben i&#x017F;t, eine lebendige Thätigkeit unterlegen; es i&#x017F;t<lb/>
ein chemi&#x017F;cher Proceß, abhängig von den gewöhnlichen chemi-<lb/>
&#x017F;chen Kräften.</p><lb/>
          <p>Der Begriff von <hi rendition="#g">Leben</hi> &#x017F;chließt neben Reproduction noch<lb/>
einen andern ein, nämlich den Begriff von Thätigkeit <hi rendition="#g">durch<lb/>
eine be&#x017F;timmte Form</hi>, das Ent&#x017F;tehen und Erzeugen <hi rendition="#g">in<lb/>
einer</hi> be&#x017F;timmten Form. Man wird im Stande &#x017F;ein, die<lb/>
Be&#x017F;tandtheile der Muskelfa&#x017F;er, der Haut, der Haare &#xA75B;c. durch<lb/>
chemi&#x017F;che Kräfte hervorzubringen; allein kein Haar, keine Mus-<lb/>
kelfa&#x017F;er, keine Zelle kann durch &#x017F;ie gebildet werden. Die Her-<lb/>
vorbringung von Organen, das Zu&#x017F;ammenwirken eines Appa-<lb/>
rates von Organen, ihre Fähigkeit aus den dargebotenen Nah-<lb/>
rungs&#x017F;toffen, nicht nur ihre eigenen Be&#x017F;tandtheile, &#x017F;ondern <hi rendition="#g">&#x017F;ich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t</hi> der Form, Be&#x017F;chaffenheit und mit allen ihren Eigen-<lb/>
&#x017F;chaften wieder zu erzeugen, dieß i&#x017F;t der Character des orga-<lb/>
ni&#x017F;chen Lebens, die&#x017F;e Form der Reproduction i&#x017F;t unabhängig<lb/>
von den chemi&#x017F;chen Kräften.</p><lb/>
          <p>Die chemi&#x017F;chen Kräfte &#x017F;ind der unan&#x017F;chaubaren Ur&#x017F;ache, durch<lb/>
welche die&#x017F;e Form bedingt wird, unterthan; &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t, die&#x017F;e<lb/>
Ur&#x017F;ache, wir haben nur Kenntniß von ihrer Exi&#x017F;tenz durch<lb/>
die eigenthümlichen Er&#x017F;cheinungen, die &#x017F;ie hervorbringt; wir<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[320/0338] Gift, Contagien, Miasmen. eine Veränderung im Blute, in Folge welcher ſich aus ſeinen Beſtandtheilen wieder Blatterngift erzeugt. Dieſer Metamor- phoſe wird erſt durch die gänzliche Verwandlung aller der Zerſetzung fähigen Bluttheilchen eine Grenze geſetzt. Durch den Contact der Oxalſäure mit Oxamid entſteht Oxalſäure, welche auf neues Oxamid die nämliche Wirkung ausübt. Nur die begrenzte Menge des Oxamids ſetzt dieſer Metamorphoſe eine Grenze. Der Form nach gehören beide Metamorphoſen in einerlei Klaſſe; aber nur ein befangenes Auge wird dieſem Vorgang, obwohl er ein ſcharfer Ausdruck des gegebenen Be- griffs vom Leben iſt, eine lebendige Thätigkeit unterlegen; es iſt ein chemiſcher Proceß, abhängig von den gewöhnlichen chemi- ſchen Kräften. Der Begriff von Leben ſchließt neben Reproduction noch einen andern ein, nämlich den Begriff von Thätigkeit durch eine beſtimmte Form, das Entſtehen und Erzeugen in einer beſtimmten Form. Man wird im Stande ſein, die Beſtandtheile der Muskelfaſer, der Haut, der Haare ꝛc. durch chemiſche Kräfte hervorzubringen; allein kein Haar, keine Mus- kelfaſer, keine Zelle kann durch ſie gebildet werden. Die Her- vorbringung von Organen, das Zuſammenwirken eines Appa- rates von Organen, ihre Fähigkeit aus den dargebotenen Nah- rungsſtoffen, nicht nur ihre eigenen Beſtandtheile, ſondern ſich ſelbſt der Form, Beſchaffenheit und mit allen ihren Eigen- ſchaften wieder zu erzeugen, dieß iſt der Character des orga- niſchen Lebens, dieſe Form der Reproduction iſt unabhängig von den chemiſchen Kräften. Die chemiſchen Kräfte ſind der unanſchaubaren Urſache, durch welche dieſe Form bedingt wird, unterthan; ſie ſelbſt, dieſe Urſache, wir haben nur Kenntniß von ihrer Exiſtenz durch die eigenthümlichen Erſcheinungen, die ſie hervorbringt; wir

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/liebig_agricultur_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/liebig_agricultur_1840/338
Zitationshilfe: Liebig, Justus von: Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie. Braunschweig, 1840, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebig_agricultur_1840/338>, abgerufen am 19.05.2024.